Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert seit diesem Jahr mit insgesamt zwölf Millionen Euro den neuen Sonderforschungsbereich „Perinatal Development of Immune Cell Topology (PILOT)“. Unter Beteiligung der Uniklinik RWTH Aachen untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Entwicklung des kindlichen Immunsystems rund um die Geburt. Im Interview spricht Univ.-Prof. Dr. med. Mathias Hornef, Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie an der Uniklinik RWTH Aachen, über die Bedeutung, Ziele und Wege dieser Forschungsarbeit.
Prof. Hornef, gemeinsam mit vielen anderen namhaften Institutionen erkunden Sie im neuen Sonderforschungsbereich, wie sich die Immunzellen des Säuglings während der Schwangerschaft und der Geburt auf den Kontakt mit Mikroorganismen, Nährstoffen und zahlreichen anderen Umwelteinflüssen vorbereiten. Warum ist diese Frage für Ihre Arbeit und das Verständnis des Immunsystems zentral?
Prof. Hornef: Neugeborene sind aus immunologischer Sicht aus drei Gründen besonders interessant. Erstens kommen wir nicht mit einem völlig ausgereiften Immunsystem auf die Welt. Erst nach der Geburt führen entwicklungsbiologische Mechanismen und Umweltfaktoren wie zum Beispiel der Kontakt und die Besiedlung durch kommensale Bakterien zu einem ausgereiften Immunsystem. Da die funktionellen Interaktionen zwischen verschiedenen immunologischen Zelltypen und ihre anatomische Organisation im Gewebe beim Erwachsenen sehr komplex sind, kann der Blick auf das reifende frühkindliche Immunsystem helfen, die Situation beim Erwachsenen besser zu verstehen. Zweitens gibt es das Konzept des „Neonatal Windows“, das heißt eines Zeitfensters nach der Geburt, währenddessen Umweltfaktoren das Immunsystem in einer besonderen Weise beeinflussen, um ein Gleichgewicht zwischen Aktivierung und Kontrolle herzustellen. Eine Vielzahl von epidemiologischen Studien beim Menschen sowie experimentelle funktionelle Arbeiten in Tiermodellen stützen dieses Konzept. Fehlende Umwelteinflüsse im frühen Kindesalter werden beispielsweise bei erhöhter Empfindlichkeit gegenüber allergischen und autoimmunologischen Erkrankungen vermutet. Ein besseres Verständnis der Faktoren, die das Immunsystem im frühen Kindesalter beeinflussen, kann dazu dienen, die lebenslange Empfindlichkeit gegenüber wichtigen und häufigen Erkrankungen zu vermindern. Und drittens sind besonders Neugeborene von schweren Infektionserkrankungen betroffen. Auch hier kann ein besseres Verständnis des frühkindlichen Immunsystems dabei unterstützen, die Entstehung dieser Infektionen besser zu verstehen und präventive Maßnahmen zu entwickeln.
Welche praktischen Anwendungen würde eine Aufklärung der Mechanismen, die der Immunentwicklung im frühen Leben zugrunde liegen, letztlich ermöglichen?
Prof. Hornef: Wenn wir verstehen, wie wir das Immunsystem während der frühkindlichen Phase beeinflussen können, damit es einen reaktiven aber ausgeglichenen Zustand erreicht, könnten wir unter Umständen die Entstehung vieler allergischer und immunologischer Erkrankungen wie Asthma oder Heuschnupfen verhindern. Außerdem könnte ein besseres Verständnis der Schwächen des Immunsystems beim Neugeborenen helfen, bei dieser Altersgruppe Infektionen besser zu verhindern oder zu bekämpfen und zum Beispiel Impfungen effizienter zu gestalten.
Inwieweit entschlüsseln sich – wenn man das frühe Immunsystem besser versteht – damit automatisch auch die Immuneffekte des Erwachsenen?
Prof. Hornef: Das adaptive Immunsystems des Erwachsenen baut kontinuierlich auf dem des Kindes auf. Wichtige Weichen scheinen aber während der frühkindlichen Lebensphase gestellt zu werden, die die Reaktionen des Immunsystems lebenslang beeinflussen. Das bedeutet, dass das frühkindliche Alter tatsächlich ein besonderes Augenmerk verdient. Die Identifikation von wichtigen Einflussfaktoren des Immunsystems während dieser Zeit trägt zu einem besseren Verständnis auch des Immunsystems des Erwachsenen bei.
Sie betreuen im Projekt dabei den Abschnitt „Nutrition, host metabolism and the antimicrobial response to enteric infection in the neonatal host“. Was ist hierbei Ihr konkretes Erkenntnisinteresse, welche Hypothese verfolgen Sie?
Prof. Hornef: Hintergrund unseres Projektes ist, dass Neugeborene durch den plötzlichen Verlust der Nahrungsversorgung durch die Nabelschnur bei Geburt, durch die Notwendigkeit, Muttermilch aufzunehmen, zu verdauen und in Energie umzuwandeln, und durch den hohen Energiebedarf zur Erhaltung der Körpertemperatur in den Tagen nach Geburt mit den wenigen vorhandenen Energiereserven sehr sorgsam umgehen müssen. Dies ist ganz anders beim Erwachsenen, der in der Leber und im Fettgewebe große Energiereserven lagert und diese viele Tage lang auch ohne zusätzliche Nahrungszufuhr mobilisieren kann. Dabei gehen immunologische Prozesse mit einer starken Proliferation von Immunzellen und einer hohen Proteinbiosynthese einher und belasten daher den Metabolismus des Wirtes stark. Die Frage, die wir in diesem Projekt bearbeiten, ist, inwieweit die Energieknappheit des Neugeborenen die immunologische Wirtsantwort zum Beispiel bei Infektionen beeinflusst. Wir fragen uns, ob Unterschiede, die wir bei der immunologischen Antwort zwischen Neugeborenen und Erwachsenen feststellen können, nicht daraus resultieren, dass der neugeborene Wirt sich nicht jede Art von Reaktion „leisten“ kann und sich daher auf einige erfolgversprechende Reaktionen und Strategien beschränkt.
Welche besondere Expertise bringen Sie beziehungsweise bringt der Standort Aachen dabei ein?
Prof. Hornef: Meine Arbeitsgruppe beschäftigt sich seit fast zwei Jahrzehnten mit Infektionen beim Neugeborenen sowie der Reifung des Immunsystems nach Geburt. Unser Hauptaugenmerk liegt dabei auf Infektionen des Magen-Darm-Traktes. Neben Infektionen des Respirations-Traktes machen sie den Hauptanteil der Infektionen im Kindesalter weltweit aus. Wir haben eine Reihe von definierten viralen, parasitären und bakteriellen Infektionsmodellen etabliert und kennen zum Teil auch die den Wirt schützenden immunologischen Mechanismen. Außerdem besitzen wir durch vergleichende Analysen des Immunsystems beim Neugeborenen und Erwachsenen inzwischen eine ganz gute Vorstellung davon, wie vielfältig und komplex diese Unterschiede sind und wie stark sie sich auf die Immunreaktion des Wirtes auswirken. Darüber hinaus haben wir in Aachen seit vielen Jahren einen guten Kollegen, Herrn Professor Thomas Clavel, der auch Mitglied des SFB/TRR359 PILOT ist, und der uns bei unserem Projekt und hier vor allem bei Fragen der Bedeutung und Etablierung des bakteriellen Darmmikrobioms stark unterstützt.
Forschung ist heutzutage offenbar stark arbeitsteilig zwischen Institutionen organisiert. Welche Vor- und Nachteile sehen Sie darin?
Prof. Hornef: Keine einzelne Institution kann heute mehr alle Methoden, Infrastruktur und Expertise vorhalten, um komplexe Fragestellungen umfassend autark zu bearbeiten. Darin liegt aber auch eine Chance. In Konsortien wie dem SFB/TRR 359 PILOT wird die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Projektleitern und Arbeitsgruppen stark gefördert. Durch die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Standorten können wir die strategischen Vorteile nutzen, um bei den einzelnen Projekten den größten Fortschritt zu erzielen. Und dabei führt die Forschung ja auch ständig zu Überraschungen und sich neu ergebenden Fragen, die wiederum nach neuen Techniken und Methoden und damit nach einem hohen Grad an Flexibilität verlangen. Nur in Konsortien mit thematischem Schwerpunkt wie zum Beispiel dem SFB/TRR 359 können solche komplexen Fragestellungen adäquat bearbeitet werden. Kooperation und Interaktion sind integraler Bestandteil von Forschung und sie können im besten Fall einen hohen Mehrwert ermöglichen.