Biomechaniker und Mediziner erforschen die Funktion unserer Gelenke
Die Biomechanik ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die den Bewegungsapparat und die hier auftretenden mechanischen Abläufe und Kräfte im Bereich der menschlichen Gelenke untersucht. Dieses Wissen ist essentiell, um Gelenkerkrankungen besser verstehen und vor allem auch behandeln zu können. Das Team der Arbeitsgruppe „Klinisch-experimentelle orthopädische Biomechanik“ an der Klinik für Orthopädie der Uniklinik RWTH Aachen beschäftigt sich intensiv mit dem Bereich dieses Forschungsgebietes. Ingenieure und Mediziner erforschen mithilfe modernster Simulations- und Modellierungsverfahren die Funktion von Hand-, Schulter-, Hüft- und Kniegelenk. Die hier neu gewonnenen Erkenntnisse sollen zeitnah in die Patientenbehandlung einfließen.
Eine Hand wäscht die andere, Hand drauf, an einer Hand abzählen, etwas in die Hand nehmen – so viele Redensarten es rund um unser Greiforgan gibt, so viele Funktionen erfüllt es auch: Von Zähne putzen über Schuhe zubinden bis zu Klavier spielen. Nicht zuletzt können Sie diesen Artikel lesen, weil Sie das Forschungsmagazin in Ihren Händen halten oder sich online auf dem Blog mit dem Finger durchklicken. Dennoch sind wir uns der Bedeutung unserer Hände oftmals erst dann bewusst, wenn ihre Funktionsfähigkeit eingeschränkt ist und – im schlimmsten Fall – ein künstliches Gelenk eingesetzt werden muss. Deutschlandweit kommt das an der oberen Extremität jährlich in etwa 12.000 Mal vor. Die Standzeit einer Handgelenksendoprothese liegt bei weniger als sieben Jahren. Im Vergleich zu anderen künstlichen Gelenken ist das ein eher schlechtes Ergebnis: 220.000 Hüft- und 180.000 Kniegelenke pro Jahr werden hierzulande implantiert, eine künstliche Hüfte hält im Durchschnitt rund 15 bis 20 Jahre. Warum die Hand nicht mithalten kann, weiß Dr.-Ing. Jörg Eschweiler, Forschungs- und Laborleiter der Klinik für Orthopädie: „Ihr Aufbau ist wesentlich komplexer als bei der Hüfte oder beim Knie. Außerdem müssen unsere Hände viel mobiler sein, die Bewegungen sind filigraner, man denke hier nur ans Einfädeln einer Nadel.“
Bislang ist der Goldstandard bei Handgelenksarthrose die Versteifung. Das Problem: Die Patienten verlieren ihre Bewegungsfreiheit, was sie im Alltag enorm einschränkt. Die Arbeitsgruppe um Dr. Eschweiler und Priv.-Doz. Dr. med. Björn Rath aus der Klinik für Orthopädie widmet sich darum vornehmlich den Bewegungsabläufen der Hand. „Einfach erklärt ist unser Ziel, die Hand besser zu verstehen, genauer gesagt die Handwurzel. Wie entstehen Verschleißerkrankungen, wie muss ein optimales künstliches Handgelenk aufgebaut sein und so weiter. Diese Erkenntnisse sollen zukünftig direkt in die Patientenversorgung einfließen“, fasst Dr. Eschweiler zusammen.
Biomechanik: mit verschiedenen Methoden und Modellen zum Ziel
Die Biomechanik vereint die Lebens- mit den Ingenieurwissenschaften und untersucht Bewegungsphänomene in biologischen Systemen. Biomechaniker haben die Aufgabe, Mediziner mit komplexen Rechenmodellen und Simulationen zu unterstützen und ihnen neue Therapieoptionen zu ermöglichen. Das heißt: Eschweiler und sein Team bedienen sich verschiedenster Methoden und Modelle aus der Mechanik und wenden diese auf den Stütz- und Bewegungsapparat an. „Erst wenn wir die Gelenkfunktionen verstehen, können wir das künstliche Gelenk so gestalten, dass es dem physischen sehr nahekommt“, sagt der Biomechaniker. Hierbei hilft etwa der 3D-Druck, der die Option eröffnet, die knöcherne Anatomie auf Basis von Bildinformationen als Abbild darzustellen (siehe untenstehende Abbildung). „Daraus können wir ableiten, wie wir eine Endoprothese individuell gestalten müssen. Wir arbeiten also sehr praxisorientiert, es steht immer ein konkreter Anwendungsfall oder eine klinische Fragestellung im Vordergrund.“
Neben dem 3D-Druck nutzen die Experten weitere Verfahren: beispielsweise vor und nach der OP das sogenannte Pauwels-Modell für die Hüfte (nach Friedrich Pauwels ist übrigens die Straße benannt, an der die Uniklinik RWTH Aachen steht). Hierbei handelt es sich um ein Berechnungsmodell, mit dem sich prä- und postoperative Röntgenbilder analysieren lassen. „Für die Therapieplanung ist das enorm wichtig. So können wir unter anderem vor der Operation sehen, wo wir am besten die Pfanne positionieren. Das ist natürlich von Patient zu Patient unterschiedlich“, erklärt Dr. Rath. Bei den Berechnungen berücksichtigen der Mediziner und der Biomechaniker auch das Gewicht und die individuelle Anatomie des Patienten.
Einen großen Anteil nimmt ebenfalls die experimentelle Forschung ein. Hierfür nutzt Biomechaniker Eschweiler verschiedene Modellansätze (bildbasiert/experimentell), entwickelt spezifische Gelenksimulatoren und modifiziert oder manipuliert Gelenkbewegungen oder -kräfte, um zu beobachten und zu analysieren, was passiert. Diese Ansätze lassen sich wiederum auf konkrete Fälle und klinische Fragestellungen anwenden. Die hier gewonnenen Erkenntnisse fließen anschließend in die Therapie ein.
Die verschiedenen Ansätze zeigen: Biomechanik ist ein interdisziplinäres Forschungs- und Anwendungsfeld. Damit steht sie für den Wandel in der Wissenschaftswelt weg von scharf gegeneinander abgegrenzten Fächern hin zu übergreifenden, methodisch verzahnten Ansätzen, bei denen Experten aus verschiedenen Bereichen und mit unterschiedlichem Wissenshintergrund synergistisch zusammenwirken – stets mit dem Ziel, den Patienten die bestmögliche Therapie angedeihen zu lassen.
AG „Klinisch-experimentelle orthopädische Biomechanik“
Die gemeinsame Arbeitsgruppe „Klinisch-experimentelle orthopädische Biomechanik“ der Klinik für Orthopädie und des Lehrstuhls für Medizintechnik unter der Leitung von Dr.-Ing. Jörg Eschweiler und Priv.-Doz. Dr. med. Björn Rath wird für die nächsten drei Jahre mit einer halben Million Euro von der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die biomechanische Erforschung der Handwurzelfunktion gefördert. Ziel des interdisziplinären Projekts zwischen Ingenieuren und Medizinern ist es, moderne Simulations- und Modellierungsverfahren zu entwickeln und anzuwenden, um die Biomechanik der Handwurzel weiter zu verstehen und die neu gewonnenen Erkenntnisse zeitnah in die Patientenbehandlung einfließen zu lassen.