Ohne Röntgen einen Blick auf die Wirbelsäule werfen, ohne Belastung den gesamten Bewegungsapparat von Kopf bis Fuß analysieren – geht das? Sehr gut sogar: Mittels modernster Kameratechnik und innovativer Darstellungsverfahren ist es möglich, das komplexe Zusammenwirken von Wirbelsäule und Becken während des Gehens zu messen und in bewegten Bildern darzustellen. In Aachen ist die wissenschaftliche Forschung bereits im klinischen Alltag angekommen.
Im Mittelpunkt steht der Patient
Hier ist die Forschung beim Patienten angekommen, die Dr. Betsch seit Jahren vorantreibt. In der Klinik für Orthopädie an der Uniklinik RWTH Aachen ist er gemeinsam mit seinem Oberarzt-Kollegen Dr. med. Valentin Quack Ansprechpartner für Bewegungsanalysen. „Seit meiner Promotion vor etwa zehn Jahren begleitet mich die Ganganalyse“, berichtet Dr. Betsch. „Ausgangspunkt war der Wunsch, Untersuchungen für Kinder mit Skoliosen, also Deformitäten der Wirbelsäule, strahlenfrei zu gestalten.“ Gängig waren bis dato Röntgenuntersuchungen – doch insbesondere für Kinder sind sie bei häufiger Anwendung höchst belastend und können unter anderem das Krebsrisiko steigern. „Die dreidimensionale Ganganalyse ist eine wertvolle Alternative zu den radiologischen Techniken“, erklärt Dr. Betsch. Zwar kann sie kein Röntgenbild ersetzen, das anatomische Einzelheiten 1:1 abbildet und spätestens vor einer OP zwingend notwendig ist, aber die Ganganalyse kann die Anzahl der Untersuchungen deutlich verringern.
Von der Statik zur Dynamik
Das in der Aachener Uniklinik verwendete System zur Ganganalyse beruht dabei auf einem Verfahren zur strahlenfreien Wirbelsäulenvermessung, der so- Priv.-Doz. Dr. med. Marcel Betsch (l.) mit seinem Oberarzt-Kollegen Dr. med. Valentin Quack genannten Rasterstereografie. Sie basiert physikalisch auf dem Prinzip der Triangulation. Ein Lichtprojektor wirft ein Linienraster auf den Rücken des Patienten, das von einer Kameraeinheit aufgezeichnet wird. Eine Computersoftware analysiert die Linienkrümmungen und generiert daraus mittels der Methode der Photogrammetrie ein dreidimensionales Abbild der Oberfläche, gleichsam ein virtueller Gipsabdruck. „Gemeinsam mit der Firma DIERS haben wir das Verfahren stetig weiterentwickelt. In ihren Ursprüngen ging es bei der Rasterstereografie nur um statische Analysen, aber es liegt doch auf der Hand, dass man den Körper in Bewegung betrachten muss. Wir benötigen dynamische Eindrücke in Echtzeit, um individuell die richtigen Therapien ergreifen zu können“, erläutert der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie.
Ergänzt wird die Ganganalyse per Rasterstereografie durch Verfahren wie das Inertialsensor-System. „Dabei werden 16 Sensoren am Körper angebracht, durch die sich Bewegungen nachverfolgen lassen. Im Vergleich zur Rasterstereografie ist hier der große Vorteil, dass die Analyse laufbandungebunden ist. Patienten können sich frei bewegen, ein Stück laufen, und die Bewegungen werden trotzdem erfasst“, weiß Dr. Quack. Wenn die Experten die unterschiedlichen Untersuchungen koppeln, lassen sich noch genauer Störungen, Fehlstellungen oder Fehlbelastungen diagnostizieren. Aber natürlich lassen sich auch Verbesserungen und Fortschritte, zum Beispiel vor und nach einer OP, dokumentieren und Therapien besser planen.
Die Zukunft der Ganganalyse
Wenngleich die Ganganalyse ursprünglich zur Wirbelsäulen- und Beckenanalyse entwickelt wurde, ist ihr Potential nicht erschöpft. Orthopäden wie Dr. Betsch und Dr. Quack überlegen, auf welche anderen Bereiche sich das Verfahren übertragen lässt. Drei Ziele haben sie sich an der Aachener Uniklinik gesetzt. Erstens möchten sie die Verfahren zur Ganganalyse gemeinsam mit der Industrie weiterentwickeln und verschiedene Systeme konsequenter miteinander verzahnen. Darüber hinaus wollen sie noch mehr Algorithmen zur Ganganalyse entwickeln. „Das System liefert uns immense Datensätze. Es ist wichtig, das auf das Wesentliche herunterzubrechen, um überhaupt mit den Daten arbeiten zu können. Daher müssen wir sowohl die Verarbeitung als auch die Auswertung weiter standardisieren“, erklärt Dr. Betsch. Drittens möchten die Mediziner noch enger mit anderen Fachbereichen kooperieren. Für die vielen an unteren Rückenschmerzen leidenden schwangeren Frauen erlaubt die moderne Ganganalyse vielversprechende Analysen und Diagnostiken, die künftig bessere Therapien ermöglichen könnten. Spannend ist die Forschung auch im Bereich von neurologischen Leiden, die mit Bewegungsstörungen einhergehen. Denkbar ist, dass eine Ganganalyse von Patienten künftig Hinweise für eine Parkinson-Erkrankung gibt. „Wir haben noch viel Arbeit vor uns“, sind sich Dr. Betsch und Dr. Quack einig – und klingen dabei nicht unzufrieden.