Mit computergestützten Tests zur Beurteilung verschiedener Aspekte der Emotionsverarbeitung haben Forscher der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Uniklinik RWTH Aachen in Zusammenarbeit mit mehreren europäischen Universitäten die bisher umfangreichste Studie durchgeführt und herausgefunden, dass Defizite in der Emotionsverarbeitung, von denen angenommen wird, dass sie bei schweren antisozialen Verhaltensweisen eine Rolle spielen, sich gleichermaßen bei Jungen und Mädchen mit einer Störung des Sozialverhaltens zeigen. Die Ergebnisse der von der Europäischen Kommission geförderten Studie „Investigating Sex Differences in Emotion Recognition, Learning, and Regulation among Youths with Conduct Disorder“ wurden nun im renommierten Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry veröffentlicht.
Mehr als 500 Jungen und Mädchen mit der Diagnose Störung des Sozialverhaltens (SSV) und eine Gruppe von mehr als 700 gesunden Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 9 und 18 Jahren aus insgesamt sechs europäischen Ländern wurden in die Studie eingeschlossen. Das internationale Forscherteam fand heraus, dass Kinder und Jugendliche mit SSV, im Vergleich zu unauffälligen Gleichaltrigen, Probleme beim Erkennen von emotionalen Gesichtsausdrücken, beim Erlernen von Emotionen (insbesondere beim Lernen aus Strafe) und beim Regulieren von Emotionen aufweisen. Hervorzuheben ist, dass diese Schwierigkeiten bei Jungen und Mädchen mit SSV gleichermaßen stark ausgeprägt sind. Dies deutet darauf hin, dass Theorien, die erklären wollen, wie sich antisoziales Verhalten bei Kindern und Jugendlichen entwickelt, für beide Geschlechter gleichermaßen gelten dürften.
Um die Diagnose SSV zu erhalten, müssen Kinder oder Jugendliche für einen längeren Zeitraum antisoziales Verhalten zeigen, das von Schuleschwänzen, Diebstahl und Vandalismus bis hin zu körperlicher Aggression, sexuellen Übergriffen und Waffengebrauch reichen kann. Etwa 1 von 20 Kindern und Jugendlichen im Schulalter ist davon betroffen, und etwa die Hälfte derjenigen, die in der Kindheit eine SSV haben, begehen weiterhin schwere antisoziale oder kriminelle Handlungen im Erwachsenenalter. Obwohl SSV bei Jungen dreimal so häufig auftritt wie bei Mädchen, ist diese Störung einer der Hauptgründe für die psychiatrische Vorstellung von Mädchen in Kliniken oder Einrichtungen der Jugendhilfe. Die Störung des Sozialverhaltens stellt eine erhebliche Belastung für die Betroffenen, ihre Familien und Betreuer dar und verursacht enorme Kosten für das Gesundheitssystem und für die Gesellschaft im Allgemeinen.
SSV ist jedoch eine unzureichend erforschte und schlecht verstandene Entwicklungsstörung, und viele Betroffene bleiben unbehandelt. Es wird angenommen, dass Probleme in der Emotionsverarbeitung, wie zum Beispiel die Fähigkeit, Emotionen in den Gesichtern Anderer zu erkennen, aus Strafen zu lernen und Emotionen zu kontrollieren (insbesondere Wut), zu antisozialen Verhaltensweisen bei Heranwachsenden mit Störung des Sozialverhaltens führen und sie zudem anfälliger für die Entwicklung anderer psychischer Probleme, wie Depression, Angst und posttraumatische Belastungsstörungen, machen.
„Wir wollten verstehen, inwieweit sich Probleme der Emotionserkennung oder des Lernens zwischen Jungen und Mädchen mit schweren antisozialen Verhaltensweisen unterscheiden, da dies die Entwicklung geschlechtsspezifischer Interventionen oder Präventionsprogramme leiten könnte. Unsere Ergebnisse zeigen jedoch, dass Jungen und Mädchen mit einer Störung des Sozialverhaltens ähnliche Schwierigkeiten bei der Verarbeitung von Emotionen aufweisen – beide Gruppen waren deutlich schlechter als unauffällige Gleichaltrige. Dies deutet darauf hin, dass psychologische Behandlungen, die auf Emotionserkennung und emotionales Lernen abzielen, für beide Geschlechter gleichermaßen gut funktionieren könnten“, erklärt Univ.-Prof. Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Kerstin Konrad, Leiterin des Lehr- und Forschungsgebiets „Klinische Neuropsychologie des Kindes- und Jugendalters“ an der Uniklinik RWTH Aachen und Seniorautorin der Studie.
„Unsere Studie ist bei weitem die Größte ihrer Art und umfasst erstmals Kinder und Jugendliche mit einer Störung des Sozialverhaltens aus verschiedenen europäischen Ländern. Wir konnten zeigen, dass sowohl die Gruppe der betroffenen Jungen als auch der Mädchen deutliche Schwierigkeiten in den Fähigkeiten zum Erkennen, Lernen und Regulieren von Emotionen aufweisen. Wichtig ist jedoch zu betonen, dass einige der Kinder und Jugendlichen mit einer Störung des Sozialverhaltens überhaupt keine Probleme bei der Emotionsverarbeitung zeigten. Die zukünftige Forschung sollte daher weitere Aspekte wie Gedächtnis, Sprache oder Aufmerksamkeit untersuchen und zudem testen, ob die Behandlung der emotionalen Defizite bei einer Störung des Sozialverhaltens das antisoziale Verhalten reduzieren hilft. Diese Forschung könnte praktische Auswirkungen auf die Entwicklung personalisierter und effektiverer Interventionen haben“, fügt Dr. rer. medic. Gregor Kohls, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Uniklinik RWTH Aachen und Hauptautor der Studie, hinzu.
Originalveröffentlichung
„Investigating Sex Differences in Emotion Recognition, Learning, and Regulation among Youths with Conduct Disorder”
https://www.jaacap.org/article/S0890-8567(19)30270-9/fulltext.
Weitere Informationen
Dr. Gregor Kohls und Prof. Dr. Kerstin Konrad,
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Uniklinik RWTH Aachen
gkohls@ukaachen.de
kkonrad@ukaachen.de