Als Spezialisten für Leber- und Stoffwechselerkrankungen betreut das Alpha1-Leberteam, bestehend aus Ärztinnen und Ärzten der Klinik für Gastroenterologie, Stoffwechselerkrankungen und Internistische Intensivmedizin (Medizinische Klinik III) an der Uniklinik RWTH Aachen Patientinnen und Patienten mit Alpha1-Antitrypsin-Mangel. Das Aachener Team fungiert mittlerweile als koordinierendes Zentrum für den Alpha1-Antitrypsin-Mangel im Europäischen Referenznetzwerk der Europäischen Kommission (ERN Rare-Liver) und der Europäischen Lebervereinigung (EASL). Dabei kooperiert es europaweit mit Patientenselbsthilfegruppen und Lungenkliniken, die sich auf die Lungenbeteiligung bei Alpha1-Antitrypsin-Mangel spezialisiert haben. Im Gespräch beantworten Univ.-Prof. Dr. med. Pavel Strnad, europäischer Leiter der Alpha1-Studiengruppe, Dr. med. Karim Hamesch sowie Malin Fromme, beide Koordinierende Studienärzte des Alpha1-Leberzentrums, die wichtigsten Fragen zum Thema.
Alpha1-Antitrypsin-Mangel: Was ist darunter zu verstehen? Wodurch wird diese Erkrankung hervorgerufen?
Prof. Strnad: Es handelt sich um eine genetisch bedingte Stoffwechselkrankheit. Alpha1-Antitrypsin ist ein wichtiges Eiweiß des Körpers. Vereinfacht gesagt schützt es das Körpergewebe vor an Entzündungsprozessen beteiligten Enzymen. Wenn dieses Protein mutiert ist, also wenn die Erbinformation für die Produktion des Alpha1-Antitrypsin verändert ist, hat das Protein eine andere Struktur. Dadurch kann dieses Protein in den Leberzellen „stecken bleiben“ und nicht mehr in die Blutstrombahn gelingen. Zum einen kommt es dadurch zu einem Mangel an intaktem Alpha1-Antitrypsin im Blut, was der Erkrankung auch den Namen gegeben hat. Dieser Mangel kann zu einem schnelleren Abbau von Lungengewebe führen. Zum anderen führt der Überschuss an fehlgefaltetem Alpha1-Antitrypsin in der Leber zu einer chronischen Entzündungsreaktion, die in einer Lebererkrankung münden kann.
Was bedeutet die Erkrankung typischerweise für den Patienten?
Dr. Hamesch: Wenn Patienten einen schweren Alpha1-Antitrypsin-Mangel haben, können mehrere Organsysteme betroffen sein. Die Erkrankung zeigt sich meistens in Form einer Lungenerkrankung. Bei einem schweren Mangel ist die Blutkonzentration an Alpha1-Antitrypsin deutlich reduziert, weil die zugrunde liegende Mutation eben dazu führt, dass kaum Alpha1-Antitrypsin aus der Leber in das Blut gelangt. Die Patienten sind schlechter gegen angreifende Einflüsse der Lunge geschützt, sodass sich das Lungengewebe schneller abbauen kann. Gerade wenn diese Patienten, die ja in der Regel von ihrer Generkrankung gar nicht wissen, rauchen oder anderen Schadstoffen ausgesetzt sind, kommt es recht früh zu einem sogenannten Lungenemphysem. Bei einem Lungenemphysem wird das Gewebe so zerstört, dass die Lunge chronisch überbläht ist und das Atmen bzw. der Gasaustausch erschwert wird. Ein Teil der Patienten ist dann so eingeschränkt, dass sie eine dauerhafte Sauerstoff-Therapie oder eine Lungentransplantation benötigen
Wie häufig tritt der Mangel auf? Handelt es sich um eine seltene Erkrankung?
Fromme: Es sind über 100 Mutationen bekannt und gerade in unseren Breiten ist die Erkrankung gar nicht so selten. So trägt im Schnitt etwa jeder Zehnte Europäer eine Mutation des Alpha1-Antitrypsins. Aber nicht alle Mutationen führen zu einem schweren Krankheitsbild. Das heißt, dass viele in der Bevölkerung eine Mutation tragen ohne dies jemals zu bemerken. Die schweren Formen des Alpha1-Antitrypsin-Mangels gehören zu den seltenen Erkrankungen. Bei der klassischen und schweren Form des Alpha1-Antitrypsin-Mangels liegt der sogenannte Pi*ZZ-Genotyp zugrunde. Hierbei sind beide Gene des Alpha1-Antitrypsins mutiert, der Patient hat also zwei Mal die sogenannte Z-Mutation. Diese klassische Form kommt im Schnitt in 1:3000 Fällen in Europa vor. Damit ist diese Form unter den seltenen Erkrankungen relativ häufig vorkommend.
Sie erforschen insbesondere die Rolle der Leber beim Alpha1-Antirypsin-Mangel.
Prof. Strnad: Genau. Bisher war die Leberbeteiligung bei Alpha1-Antitrypsin-Mangel nicht ausreichend verstanden. Man wusste zwar, dass es die zweithäufigste Organbeteiligung nach der Lunge ist. Man wusste aber nicht, wie genau eine solche Leberbeteiligung aussieht und welche Faktoren zu einer stärkeren Leberbeteiligung führen. Es war auch nicht klar, wieso Neugeborene Leberprobleme bekommen können und andere Patienten solche erst im höheren Lebensalter entwickeln. Daher haben wir 2015 begonnen, Erwachsene mit einem bekannten Alpha1-Antitrypsin-Mangel zu untersuchen.
Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Dr. Hamesch: Wir haben den Kontakt zu Patientenselbsthilfegruppen wie Alpha1 Deutschland gesucht. Bei seltenen Erkrankungen sind die Patienten manchmal gut vernetzt und gerade im Alpha1-Bereich funktioniert dies vorbildlich. Wir sind dann zu einer Patiententagung gefahren und hatten alle wichtigen Utensilien einschließlich des FibroScans mitgenommen. Das ist ein Gerät, mit dem man per Vibrationsmessung den Grad der Lebervernarbung messen kann. Außerdem hatten wir Materialien für eine Blutabnahme und verschiedene Fragebögen dabei. Nach dieser ersten Erfahrung fingen wir an, verschiedene lokale Selbsthilfegruppen in Seminarräumen oder die Patienten von Alpha1-Lungenzentren in den Praxen zu untersuchen. Die Nachfrage wurde immer größer und dann haben wir unsere Aktivitäten auf die Nachbarstaaten ausgedehnt.
Heute koordinieren Sie ja eine europäische Studiengruppe. Wie kam es dazu?
Fromme: Nachdem wir anfangs den Kontakt zu Patientenselbsthilfegruppen und spezialisierten Lungenärzten in den Nachbarländern suchten, um Patienten vor Ort zu untersuchen, haben wir versucht, Leberärzte in den anderen Ländern zu finden. Diese sollten vor Ort die Aktivitäten koordinieren. Glücklicherweise gab es im Jahr 2017 zwei Ereignisse, die uns bei dem Ausbau dieses europaweiten Netzwerkes halfen. Zum einen hat die Europäische Kommission eine Initiative ins Leben gerufen, um die Aktivitäten für seltene Erkrankungen Länder- und fachübergreifend zu koordinieren. Bei diesen „European Reference Networks“ bildete sich auch ein Netzwerk für die Leber. Hier haben wir die Koordination der Aktivitäten zum Alpha1-Antitrypsin-Mangel übernommen. Dabei waren wir auch in Kontakt mit den Kollegen, die die entsprechenden Aktivitäten für die Lunge und die Kinder organisieren. Mit diesem Netzwerk bewarben wir uns dann bei der europäischen Lebervereinigung um eine Förderung für unser Register, welches wir erfreulicherweise erhielten. So konnten wir auch einen Teil der Materialkosten, die bei den Untersuchungen entstehen, an die Kooperationspartner auszahlen.
Sie forschen also in einem internationalen Umfeld. Welche Wissenschaftler aus welchen Ländern sind beteiligt. Welche Rolle spielt der Standort Aachen?
Prof. Strnad: Wir haben das große Glück, dass sich über die letzten Jahre immer mehr Wissenschaftler unserer Initiative angeschlossen haben. Momentan sind Wissenschaftler aus elf europäischen Ländern dabei und jedes Land ist mit mindestens einem Standort vertreten. Die Blut- und Lebermaterialien werden in Aachen zentral gesammelt und die anonymisierten klinischen Informationen in einer sicheren, an der RWTH entwickelten Online-Plattform zusammengetragen. Bis heute haben wir Daten von mehr als 1500 Alpha1-Probanden und Kontrollpersonen ohne Alpha1-Antitrypsin-Mutation zusammengetragen. Für spezielle wissenschaftliche Fragestellungen arbeiten wir aber auch mit Wissenschaftlern aus weiteren Ländern zusammen. Bei unserer letzten Veröffentlichung haben uns beispielsweise auch Kollegen aus Sydney, Australien, Leberproben zugesandt.
Welche Art von Leberschädigung kann bei einer Mutation des Alpha1-Antitrypsin-Gens auftreten?
Dr. Hamesch: Wir haben uns erst einmal auf die relevanteste Mutation des Alpha1-Antitrypsin fokussiert, nämlich die sogenannte Z-Mutation. Patienten, die zwei Z-Mutationen tragen, haben den sogenannten ZZ-Genotyp während Patienten, die nur eine Z-Mutation tragen den MZ-Genotyp aufweisen. Der ZZ-Genotyp entspricht wie gesagt dem klassischen, schweren Alpha1-Antitrypsin-Mangel. Hier haben wir über 550 Patienten untersucht und gesehen, dass diese Patienten ein hohes Risiko für eine fortgeschrittene Lebervernarbung aufweisen. Ebenso liegt häufig auch eine Leberverfettung gepaart mit einer Veränderung der Fettstoffwechselwerte im Blut vor, was auf die Ausschleusungsstörung aus der Leberzelle, bedingt durch die „Verstopfung“ mit mutiertem Alpha1-Antitrypsin, hinweisen könnte.
Die Patienten mit dem MZ-Genotyp haben einen milden Alpha1-Antitrypsin-Mangel. Lange dachte man, dass diese Patienten wenn überhaupt nur bei starkem Leberschädigenden Verhalten eine Lebererkrankung aufweisen. Im Schnitt haben diese Probanden etwas höhere Leberwerte, sie liegen zwischen denen von Probanden mit dem ZZ-Genotyp und denen ohne Alpha1-Antitrypsin-Mutation. Auch die Lebervernarbung war zwischen diesen beiden Polen ausgeprägt. Wenn man sich das Lebergewebe unter dem Mikroskop anschaut, sieht man, dass das Ausmaß der Lebervernarbung mit der Anzahl der Alpha1-Einschlusskörper in den Leberzellen zusammenhängt.
Welche Rolle spielt dabei der Lebensstil (z. B. Alkohol, Übergewicht)?
Fromme: Das ist eine ganz wichtige Frage. Der Lebensstil spielt bei Alpha1-Patienten – wie auch bei anderen Patienten mit chronischen Lebererkrankungen – eine wichtige Rolle. Patienten mit dem MZ-Genotyp, also dem „milden“ Mangel, die gleichzeitig einen Alkoholmissbrauch aufweisen oder eine Fettleber haben, haben ein deutlich erhöhtes Risiko eine Leberzirrhose zu entwickeln als wenn die Patienten keine Alpha1-Mutation hätten. Die Leberzirrhose ist das narbige Endstadium chronischer Lebererkrankungen und kann zu verschiedenen Komplikationen führen. Diese Daten deuten darauf hin, dass die Z-Mutation der stärkste bisher bekannte genetische Risikofaktor für eine Leberzirrhose ist. Daher ist es für die Träger dieser Mutation wichtig, nicht übermäßig Alkohol zu konsumieren und nicht übergewichtig zu werden. Übergewicht kann auch zur Zuckerkrankheit, dem Diabetes, führen, welcher wiederum negative Effekte auf die Leberbeteiligung bei Alpha1-Antitrypsin-Mangel hat. Weitere Risikofaktoren, die man aber nicht verändern kann, sind das männliche Geschlecht und ein höheres Lebensalter.
Was können Sie Familien raten, bei denen ein Alpha1-Fall aufgetreten ist?
Prof. Strnad: Familienangehörige sollten genetisch von einem Arzt beraten werden. In dem Zusammenhang sollte entschieden werden, welchen Familienmitgliedern ein Gentest angeboten wird. Zu uns kommen häufig Familien, die alle auf eine Leberschädigung untersucht werden. Familienangehörige mit einer Alpha1-Mutation sollten „gesund“ leben. Also nicht übermäßig Alkohol trinken, nicht übergewichtig werden usw. Das erreicht man am besten durch eine ausgewogene Ernährung und regelmäßige Bewegung. Die gute Nachricht ist sowohl im Falle eines leichten als auch eines schweren Alpha1-Antitrypsin-Mangels, dass bei Fehlen der genannten Risikofaktoren die überwiegende Mehrzahl keine relevante Lebererkrankung entwickelt. Vorsorge lohnt sich hier also! Außerdem kann sich die Leber relativ gut regenerieren. Daher ist es auch bei bereits vorliegender Lebererkrankung sinnvoll, mit einem gesünderen Lebensstil zu beginnen und damit nicht nur seiner Leber etwas Gutes zu tun.
Wo stehen Sie bei der Forschung? Was ist Ihr Ziel?
Dr. Hamesch: Unser Ziel ist es in erster Linie, die Leberbeteiligung besser zu verstehen. Nur so ist es möglich, eine Lebermanifestation früh zu erkennen und entsprechend gegensteuern zu können. Und nur wenn wir wissen, wie der natürliche Leberverlauf dieser Erkrankung ist, können wir einen bedarfsgerechten Vorsorgeplan entwickeln. Momentan ist es ja noch so, dass es keine genaueren Leitlinien gibt, wie die Leberversorgung erfolgen sollte. Und natürlich geht es auch darum, durch das bessere Verständnis auch effektive Therapien zu entwickeln. Denn momentan bleibt Patienten, die eine fortgeschrittene Leberzirrhose entwickelt haben, nur die Lebertransplantation als Behandlungsoption.
Kann man alle vom Alpha1-Antitrypsin-Mangel betroffenen Organe denn heilen?
Fromme: Momentan steht leider noch keine heilende Therapie zur Verfügung. Patienten mit einer ausgeprägten Lungenerkrankung können Alpha1-Antitrypsin aus dem Blutplasma von Spendern erhalten. Damit kann das Voranschreiten des Lungengewebeabbaus verlangsamt werden. Der Schlüssel zur Heilung liegt interessanterweise in der Leber, da das Alpha1-Antitrypsin überwiegend dort gebildet wird. Kürzlich sind unterschiedliche Wirkstoffe mit innovativen Mechanismen in die klinische Erprobung gegangen. Hier sind wir federführend an innovativen Therapiestudien beteiligt und hoffen, dass wir in absehbarer Zeit den betroffenen Patienten auch erprobte Therapien anbieten können.
Weitere Informationen zum Projekt und der europäischen Studiengruppe:
www.alpha1-leber.de
Kontakt:
Univ.-Prof. Dr. med. Pavel Strnad
Tel.: 0241 80-36606
mail@alpha1-leber.de
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