Magersucht ist eine der häufigsten chronischen Erkrankungen des Jugendalters und gilt als eine schwere und ernsthafte psychosomatische Erkrankung, der keine einfache Ursache zugeschrieben werden kann. Gerade bei jungen magersüchtigen Betroffenen kann das häusliche Umfeld positiven Einfluss auf die Entwicklung der Essstörung und den Verlauf der Therapie nehmen. Im Rahmen des Projekts „HoT“ werden jugendliche Patientinnen und Patienten in ihrem Zuhause durch speziell geschulte, multiprofessionelle Betreuende medizinisch und psychologisch versorgt. Dieses Therapiekonzept baut auf das bereits 2017 etablierte Pilotprojekt „Home Treatment“ auf und wird durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses für vier Jahre mit insgesamt rund zwei Millionen Euro gefördert.
Pubertätsmagersucht, in der Fachsprache Anorexia nervosa genannt, hat die höchste Sterblichkeitsrate aller psychischen Erkrankungen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ordnet die Erkrankung den vier wichtigsten kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen mit „lebenslangen Konsequenzen“ zu. Die Erkrankung betrifft vor allem das weibliche Geschlecht. Etwa 90 bis 95 Prozent der an Anorexia nervosa Erkrankten sind Mädchen.
Aufbauend auf den ersten positiven Ergebnissen der Aachener Pilotstudie hat die Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Uniklinik RWTH Aachen, unter Federführung der Klinikdirektorin Univ.-Prof. Dr. med. Beate Herpertz-Dahlmann und Oberärztin Dr. med. Brigitte Dahmen, das Projekt „HoT“ ins Leben gerufen. „Es folgt einem sogenannten Step-down-Behandlungsansatz. Jugendliche Patientinnen und Patienten werden nach spätestens acht Wochen aus der stationären Behandlung entlassen und in eine viermonatige stationsersetzende Behandlung zu Hause, auch Home Treatment genannt, überführt“, erklärt Prof. Herpertz-Dahlmann die patientenorientierte Behandlungsmethode. Ein multiprofessionelles Team aus Psychologen, Ärzten, Fachtherapeuten, Mitarbeitern des Pflegedienstes und Ernährungsberatern behandelt die Patienten drei- bis viermal wöchentlich intensiv zu Hause zusammen mit ihren Eltern.
„In Aachen wird diese Behandlungsform nach hilfreichen Verhandlungen unserer Verwaltung mit den Krankenkassen schon seit längerem erfolgreich praktiziert. Jeder Patient, der die Voraussetzungen erfüllt, darf unabhängig von seiner Krankenkasse daran teilnehmen“, so die Kinder- und Jugendpsychiaterin.
Wirksamkeit wissenschaftlich belegen
Aus der Pilotstudie geht hervor, dass eine Verbesserung der Behandlungszufriedenheit, eine Kompetenzsteigerung der Patienten und ihrer Angehörigen und eine höhere Therapieeffizienz bei besserer Wirtschaftlichkeit im Vergleich zur Regelversorgung erreicht werden kann. Die aktuelle Studie im Rahmen des Innovationsfondsprojekts „HoT“ soll diese Ergebnisse durch eine vergleichende Studie mit deutlich mehr Patienten bestätigen. „Aus diesem Grund nehmen vier weitere kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken, konkret die Uniklinik Münster, Uniklinik LVR Bochum/Hamm, LVR Klinik Bonn und LVR Klinik Viersen, an der großen Studie unter unserer Leitung teil“, sagt die Klinikdirektorin. Dazu werden die Behandlungsteams der jeweiligen Kliniken durch die Uniklinik RWTH Aachen geschult. Um den Erfolg des Home Treatment-Konzepts zu beurteilen, werden unter anderem die Gewichtsstabilisierung, die Lebensqualität und die Rückfallquote der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen mit einer Kontrollgruppe verglichen, die wiederum an der normalen Regelversorgung teilnimmt. „Es erfolgt zusätzlich eine vergleichende ökonomische Analyse der Kontroll- und Home Treatment-Gruppe. Zudem wird die Übertragbarkeit der Maßnahme auf weitere Versorgungskliniken in ganz Nordrhein-Westfalen untersucht“, ergänzt Prof. Herpertz-Dahlmann.
Überführung in die Regelversorgung
Durch die finanzielle Förderung und Unterstützung des Gemeinsamen Bundesausschusses kann das Behandlungskonzept wissenschaftlich begleitet und ausgewertet sowie Personal anderer Kliniken geschult werden. Davon verspricht sich Prof. Herpertz-Dahlmann eine Übertragung der innovativen Versorgungsform in die Regelversorgung: „Im Erfolgsfall kann das Projekt den Nachweis erbringen, dass das Home Treatment der aktuellen Standardtherapie aus stationärer und teilstationärer Behandlung in Bezug auf Heilungserfolg und Lebensqualität überlegen ist und in die Regelversorgung übernommen werden kann.“ Die Forschenden verbinden damit die Hoffnung, dass die Erkenntnisse die Behandlung und die Prognose der jugendlichen Patienten mit Magersucht verbessern und als Grundlage für strukturelle Veränderungen in der Gesundheitsversorgung dieser Patienten dienen können. „Die medizinische und auch psychologische Versorgung zu Hause stellt nicht nur eine große Entlastung für die Kinder, sondern auch für ihre Angehörigen dar. Wir hoffen durch diese Form der Therapie auf weniger Rückfälle und eine bessere Integration der jungen Patienten in den Alltag“, betont auch die Oberärztin Dr. Dahmen.
Konsortialpartner des Projekts
• Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie LVR Viersen
• LVR Bonn
• LWL Universitätsklinikum Hamm
• Universitätsklinikum Münster
• AOK Rheinland/Hamburg
• Techniker Krankenkasse
• Deutsche Angestellten Krankenkasse
• Innungskrankenkassen Classic
• Christian-Albrecht-Universität Kiel