Weltweit gibt es schätzungsweise bis zu 8.000 Seltene Erkrankungen. Eine dieser Erkrankungen sind die Myeloproliferativen Neoplasien, kurz MPN. Das ist eine Gruppe bösartiger Erkrankungen des Knochenmarks, bei der zu viele Blutkörperchen oder -plättchen gebildet werden. Eine MPN-Erkrankung verläuft chronisch und ist nur in einem Teil der Fälle mithilfe einer für den Patienten mitunter sehr belastenden Stammzelltransplantation heilbar. Ein wichtiger Baustein zur Erforschung der MPN ist das sogenannte Bioregister – eine Datenbank, in der klinische Daten und Biomaterial von Patienten überregional und zentral krankheitsspezifi sch erfasst werden.
Jährlich werden circa fünf MPN-Fälle pro 100.000 Einwohner neu diagnostiziert. Das erscheint auf den ersten Blick wenig, doch bis zum Jahre 2050 rechnen Experten – insbesondere aufgrund der verbesserten Behandlungsmöglichkeiten dieser Erkrankungen – mit einer Zunahme der Erkrankungsrate in Europa um das Zehnfache. Umso relevanter ist die Erforschung der MPN. Die German Study Group für Myeloproliferative Neoplasien (GSG-MPN), die sich aus Experten der Universitätskliniken in Aachen, Ulm und Bochum/Minden zusammensetzt, hat dafür das Projekt „MPN-Bioregister“ ins Leben gerufen. „Das Bioregister muss man sich wie eine Art kombinierte Daten und Gewebebank vorstellen. Es trägt Informationen wie Genetik, Symptome und Krankheitsverläufe von MPN-Patienten zusammen, um diese für verschiedene klinische Fragestellungen auswertbar und für die zukünftige Behandlung nutzbar zu machen“, sagt Univ.-Prof. Dr. med. Steffen Koschmieder, Leiter des Bioregisters und Referenzlabors in Aachen und Leiter des Lehr- und Forschungsgebietes Translationale Hämatologie und Onkologie an der Uniklinik RWTH Aachen. Die gesammelten Informationen liefern den Krebsexperten wichtige Erkenntnisse über die Entstehung, Diagnose und Therapie der Erkrankung. „So können wir Therapien optimieren und individuell zuschneiden. Das ist für einen Teil der MPN bereits Alltag und für die anderen MPN-Subtypen ein wichtiger Schritt in Richtung personalisierte Krebsmedizin“, betont Prof. Koschmieder.
Aktuell sind mehr als 2.500 Patienten in das MPN-Register eingeschlossen – deutlich mehr als in den meisten nationalen Registern weltweit. Gerade bei Seltenen Erkrankungen ist die systematische Erfassung in einem krankheitsspezifi schen Register notwendig, um repräsentative Aussagen über Risikofaktoren, Begleiterkrankungen, prognostische Variablen und Therapieerfolge zu ermöglichen. Im Gegensatz zu vielen klinischen Studien können im GSG-MPN-Register auch Patienten mit wichtigen Komorbiditäten (Begleiterkrankungen), palliativ-supportiven Therapiekonzepten oder anderen Charakteristika erfasst werden, die aufgrund von typischen Ein- bzw. Ausschlusskriterien in die meisten interventionellen Studien nicht eingeschlossen werden können und deren Krankheitsverlauf somit nicht dokumentiert wird.
Im Gegensatz zu bundesweiten epidemiologischen Krebsregistern greift beim MPN-Bioregister ein integriertes Konzept aus Grundlagen- und klinischer Forschung sowie klinischer Versorgung. „Neben klinischen Daten und einer echten, sogenannten real-life-Abbildung des Verlaufs dieser Erkrankungen, legen wir ein besonderes Augenmerk auf die Lebensqualität unserer Patienten, die in Form eines Fragebogens einmal jährlich erhoben wird“, sagt Univ.-Prof. Dr. med. Tim H. Brümmendorf, Direktor der Klinik für Hämatologie, Onkologie, Hämostaseologie und Stammzelltransplantation der Uniklinik RWTH Aachen und Stellvertretender Sprecher der deutschen MPN-Studiengruppe GSG-MPN. Die Laufzeit des Registers ist unbegrenzt. Der Krankheitsverlauf der teilnehmenden Patienten soll über einen möglichst langen Zeitraum dokumentiert werden.
Kooperation mit Biomaterialbank und NGS-Zentrum
Ein wichtiger Bestandteil des Registers ist die integrierte Biomaterialbank: Blut und/oder Knochenmarkproben sind auf Antrag verfügbar. Somit können neue biologische Erkenntnisse rasch auf ihre Bedeutung überprüft und, nach entsprechender Validierung, in die Diagnostik integriert werden. Die zweite wichtige Komponente ist das sogenannte „Next-Generation Sequencing“ des (NGS-)Diagnostik-Zentrums an der Uniklinik RWTH Aachen, das die Expertisen in der diagnostischen Nutzung der massiven Parallelsequenzierung innerhalb der Uniklinik bündelt. Darüber hinaus können die Bioproben für wissenschaftliche Projekte genutzt werden. „Das ist ein wesentlicher Vorteil im Vergleich zu herkömlichen klinisch-epidemiologischen Krebsregistern“, erklärt Prof. Koschmieder.
Aufgrund der Seltenheit der MPN-Erkrankungen ist der Erfahrungsaustausch und die Vernetzung zwischen den Therapiezentren besonders wichtig, um die Qualität der Versorgung sowie die Lebensqualität der betroffenen Patienten so optimal wie möglich zu gestalten. Aktuell beteiligen sich mehr als 60 Zentren in ganz Deutschland an dem MPN-Register, darunter Universitätskliniken, kommunale Krankenhäuser und onkologische Arztpraxen.