Rund 9.000 ambulante und stationäre Behandlungen pro Jahr – die Klinik für Neurologie ist mit über 50 Ärztinnen und Ärzten eine der großen Klinken der Uniklinik RWTH Aachen. Das Team von Univ.-Prof. Dr. med. Jörg B. Schulz versorgt gemeinsam mit seinen Kollegen der Kliniken für Neuroradiologie und Neurochirurgie jährlich allein über 1.000 Schlaganfallpatienten auf der sogenannten Stroke Unit. Im Rahmen des Interdisziplinären Neurovaskulären Zentrums (INZA) und des regionalen Schlaganfallnetzwerks West kooperiert die Klinik zudem eng mit umliegenden Krankenhäusern der Region, um eine optimale Akutversorgung zu gewährleisten. Ein weiterer Versorgungsschwerpunkt der Klinik für Neurologie liegt auf den neurodegenerativen Erkrankungen und der Epilepsiebehandlung.
Mit aachener FORSCHUNG sprach der Experte über die Forschungsarbeit seiner Abteilung und deren Bedeutung für die Krankenversorgung.
Prof. Schulz: Das stimmt. Die Schlaganfälle nehmen im Versorgungsspektrum einer universitären Neurologie naturgemäß einen breiten Raum ein. Seit Etablierung und Weiterentwicklung der Stent-gestützten mechanischen Rekanalisation an der Uniklinik durch Professor Martin Wiesmann, dem Direktor der Klinik für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie, steigen die jährlichen Anwendungszahlen der mechanischen Rekanalisation von Gehirngefäßen. Im letzten Jahr konnten wir von den 1.000 Schlaganfallpatienten knapp 180 mit dieser Methode behandeln. Derzeit beherrschen nur etwa 120 Ärzte in Deutschland dieses Verfahren. Davon arbeiten fünf in der Klinik für Neuroradiologie der Uniklinik RWTH Aachen. Als neuerer Versorgungsschwerpunkt nimmt in jüngerer Zeit unser Epilepsiezentrum einen breiteren Raum ein. Therapieresistente Epilepsien können dank der Fortschritte bei der bildgebenden Diagnostik und den neurochirurgischen Techniken immer öfter erfolgreich behandelt werden.
Nun lebt universitäre Medizin vom Dreiklang aus Forschung, Lehre und Versorgung. Wo liegt Ihr wissenschaftlicher Fokus?
Prof. Schulz: Forschungsarbeit ist für Hochschulmedizin kein Beiwerk, sondern integraler Bestandteil und Grundlage unserer Krankenversorgung, wie das Beispiel der soeben erwähnten Schlaganfalltherapie besonders eindrucksvoll demonstriert. Sehr grob gesprochen gibt es in der neurologischen Forschung in Aachen zwei Stränge, die sich beide gegenseitig befruchten: Erstens erforschen wir die Ursachen von neurodegenerativen Erkrankungen und arbeiten an neuen Therapieverfahren. Zweitens erforschen wir die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns, diesen Zweig nennt man systemische Neurowissenschaften. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse werden in Kooperation mit klinischen Partnern zur Diagnose, Prognose und Therapie von neurologischen und neuropsychiatrischen Krankheiten angewandt.
Welche Erkrankungen fasst man unter dem Begriff „neurodegenerative Erkrankungen“ zusammen?
Prof. Schulz: Als neurodegenerative Erkrankungen bezeichnen wir eine Klasse meist langsam fortschreitender, erblicher oder sporadisch auftretender Erkrankungen des Nervensystems, oftmals mit schweren Folgen. Der fortschreitende Verlust von Nervenzellen führt zu verschiedenen neurologischen Symptomen – darunter häufig zu Demenz und Bewegungsstörungen, zum Beispiel Parkinson, Ataxien und Dystonien. Die Erkrankungen können in unterschiedlichen Lebensaltern mit unterschiedlichen Verläufen auftreten und rufen charakteristische Schädigungsmuster am Nervengewebe hervor.
Welchen Erkrankungen widmen Sie sich hier in Aachen speziell?
Prof. Schulz: In unserer neurologischen Forschung decken wir hier in Aachen ein großes Spektrum der Pathogenese und Therapie zahlreicher neurologischer Erkrankungen wie Parkinson, cerebraler Ataxie, Alzheimer-Krankheit oder Friedreich-Ataxie ab. Mit dem Zentrum für Seltene Erkrankungen Aachen verfügen wir auch über eine Dachstruktur für Forschende, die sich mit sehr spezifi schen und seltenen neurologischen Erkrankungen befassen. Wir interessieren uns für die zellulären Ursachen und molekularen Mechanismen neurodegenerativer Erkrankungen, um darauf aufbauend neue Therapieverfahren zu erarbeiten. Unsere Arbeit vereint eine Vielzahl an inhaltlichen und methodischen Aspekten: angefangen bei der Charakterisierung von Transportmolekülen im neuronalen Axon bis hin zur Analyse ganzer kortikaler Netzwerke fi nden sich modernste neurowissenschaftliche Arbeitsfelder auch bei uns wieder.
Wie kann man sich das konkret vorstellen?
Prof. Schulz: Unsere Forschung ist in Arbeitsgruppen organisiert. Von der Akutbehandlung des ischämischen Schlaganfalls über neuromuskuläre Erkrankungen des peripheren Nervensystems, das außerhalb des Gehirns und Rückenmarks gelegen ist, und neurologisch verursachte Störungen der Wahrnehmung und Sensomotorik und Sprachfähigkeit bis hin zur zellulären Neurobiologie und Neuroimmunologie beschreibt unsere Forschung ein weites Feld. Besonders die Bildgebung ist für uns von großem Interesse, hier wollen wir krankheitsspezifi sche Bildgebungsmarker identifizieren, um so ein besseres Verständnis der Erkrankungen zu gewinnen und eine verbesserte Vorhersage individueller Erkrankungsrisiken und -verläufe zu ermöglichen. Diese Arbeit erfolgt in enger Zusammenarbeit mit dem Forschungszentrum Jülich im Rahmen der Jülich-Aachen Research Allianz, JARA-BRAIN. Dort bin ich Ko-Direktor eines Instituts mit dem Thema „Molecular Neuroscience and Imaging“.
Was erwarten Sie für die Zukunft?
Prof. Schulz: Die Neurologie hat sich deutlich von einer vornehmlich diagnostischen zu einer aktiv therapierenden Fachdisziplin gewandelt. Für immer mehr Krankheiten stehen innovative Behandlungsformen zur Verfügung. Das Forschungs- und Innovationspotenzial ist immens. Unser Fach hat sicher das Potenzial, viele schwere chronische Erkrankungen zu erforschen und zu behandeln.