Seit dem 1. Mai 2021 firmiert die Sektion Medizintechnik offiziell als Acute.Care Innovation.Hub. Es handelt sich dabei um eine interdisziplinäre Forschungseinheit der Klinik für Anästhesiologie an der Uniklinik RWTH Aachen. Im Interview mit aachener FORSCHUNG spricht Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Michael Czaplik über seine Arbeit als Sektionsleiter sowie über Schwerpunkte und Ziele der Organisationseinheit.
Herr Prof. Czaplik, wofür genau steht „Acute.Care Innovation.Hub“?
Prof. Czaplik: Im Zentrum der Akutmedizin, also Acute.Care, steht die Anästhesiologie, inklusive der Vor- und Nachbetreuung. Auch die Notfall- und Katastrophenmedizin wird damit abgedeckt. Innovation.Hub hingegen bietet eine agile Vernetzung und dient als Bindeglied zwischen Anwendern, Forschern und der Industrie. Anwendungsnahe Digitalisierungsprojekte werden, sofern hierfür eine erfolgreiche Marktperspektive erkennbar ist, bis zu einer möglichen Vermarktung verfolgt. Das Ziel ist die Translation der Forschung bis in die Krankenversorgung.
Was war der Grund für die Namensänderung?
Prof. Czaplik: Medizin, Innovation und Wissenschaft sind das Herzstück unserer täglichen Arbeit. Die Umbenennung erfolgte, da die vorherige Bezeichnung ‚Medizintechnik‘ sich als nicht mehr zeitgemäß und irreführend herausgestellt und unsere Forschungsschwerpunkte nur unzureichend abgebildet hatte. Der neue Name Acute.Care Innovation.Hub soll den Fokus auf die Schnittstelle zwischen Forschung und Anwendern, Universität und Industrie legen.
Was sind denn die Forschungsschwerpunkte des Acute.Care Innovation.Hubs?
Prof. Czaplik: Am Acute.Care Innovation.Hub werden verschiedene innovative Forschungsprojekte mit den Schwerpunkten „Telemedizin, eHealth und mHealth“, „Smarte Sensorik und innovatives Monitoring“ sowie „Interoperabilität und künstliche Intelligenz“ initiiert und durchgeführt. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Ingenieurwesen, der Informatik, der Medizin sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weiterer Professionen arbeiten interprofessionell an Innovationen in der Akutmedizin, um die Ressourcen des Gesundheitssystems optimal zu nutzen.
Was können wir uns darunter konkret vorstellen?
Prof. Czaplik: Der Forschungsschwerpunkt „Interoperabilität und künstliche Intelligenz“ adressiert die intelligente und situationsadaptive Vernetzung von Medizingeräten, die Prozessoptimierung durch integrierte Medizintechnik sowie die Integration von Entscheidungsunterstützungslogiken in der Akutmedizin. Einer der Highlights der letzten Jahre war die Gründung des OR.NET e.V., einem gemeinnützigen Verein, der die Weiterentwicklung und Verstetigung eines neuen Standards für die Medizingeräte-Kommunikation zum Gegenstand hat. An diesem, heute bereits international anerkannten IEEE-Standard, haben wir aktiv mitgewirkt. Bis heute arbeiten wir als Gründungsmitglied aktiv im Vorstand des Vereins mit. Konkrete Anwendungsbeispiele für den Kliniker sind außerdem in unserem „Showroom“ zu sehen.
Im Bereich „Telemedizin, eHealth und mHealth“ konzentrieren wir uns auf die Digitalisierung der Medizin, Informations- und Kommunikationstechnologien sowie die Überbrückung von Versorgungsengpässen. Unter anderem sind wir am Projekt „Optimal@NRW“ beteiligt, das federführend von der Zentralen Notaufnahme betreut wird. In diesem Projekt geht es darum, die Akutversorgung geriatrischer Patienten durch ein intersektorales telemedizinisches Kooperationsnetzwerk zu optimieren. Dieser Ansatz umfasst die Implementierung von Frühwarnsystemen, die Ausstattung mit Telekonsultationssystemen und die sektorenübergreifende digitale Behandlungsdokumentation. Unsere Verantwortung hierbei liegt beim technischen Management.
Unter „Smarte Sensorik und innovatives Monitoring“ verstehen wir kontaktlose und unmerkliche Messmethoden zur kontinuierlichen Beurteilung des Gesundheitszustands eines Patienten. Hierfür ist beispielhaft das Projekt FALKE zu nennen, das eine Flugsystemassistierte Leitung komplexer Einsatzlagen beschreibt. Im Falle eines Massenanfalls von Verletzten ist es die Aufgabe der Einsatzkräfte, die Verletzten in verschiedene Sichtungskategorien einzuteilen. Obwohl die meisten dieser Einsatzkräfte die anzuwendenden Sichtungs-Algorithmen kennen, werden sie oftmals im Einsatz falsch angewendet.
Warum ist das so? Die Einsatzkräfte sind doch gut ausgebildet.
Prof. Czaplik: Ja, absolut. Aber die Ablenkung und der psychische Druck durch die akute Lage sind immens. Dann kann es schnell zu fehlerhaften Anwendungen kommen. Im Projekt FALKE wollen wir diesen Prozess teilautomatisieren, um die Qualität der Sichtung zu verbessern. Dazu werden durch verschiedenste Sensortechniken wie Radar, IRT-Kamera und RGB-Kamera an einem unbemannten Flugsystem installiert, um Vitaldaten und Bewegungsprofile schnellstmöglich zu erfassen. Existente Sichtungsalgorithmen werden an die Datenlage angepasst und durch einen telemedizinisch angebundenen Leitenden Notarzt, den sogenannten Tele-LNA, korrigiert oder bestätigt. Durch ein schnell entstandenes Lagebild wird die schwierige Aufgabe der Sichtung mittels Technologie beschleunigt und vereinfacht, sodass frühzeitige, gezielte und lebensrettende Sofortmaßnahmen eingeleitet werden können.
Profitieren schon jetzt einige Kliniken an der Uniklinik RWTH Aachen von Ihren Ergebnissen und Entwicklungen?
Prof. Czaplik: Seit Gründung unserer Sektion im Jahr 2014 konnten wir schon einige unserer Projekte erfolgreich in die Praxis überführen. Um nur eins zu nennen: der TEMI-Roboter. Das Robotersystem kam vergangenes Weihnachten in der Klinik für Altersmedizin der Uniklinik RWTH Aachen am Standort Franziskus zum Einsatz, um Patienten aufgrund coronabedingter Besuchsbeschränkungen einen digitalen Kontakt zu den Familienangehörigen zu ermöglichen. Über eine moderne Videokonferenz konnten Familien weltweit zusammengeführt werden und ohne das Risiko einer Infektion Kontakt zueinander aufnehmen. Der TEMI-Roboter ist Teil eines Forschungsprojektes mit dem Namen AIDA, das sich der Erforschung der Potentiale von Telemedizin und -robotik in der Altenpflege widmet und vom Land NRW und anderen aus Mitteln der EU gefördert wird.
Langfristig soll es auch möglich sein, medizinische Hilfe über die Robotertechnik teilautonom zu erhalten und einen telemedizinischen Kontakt zum Beispiel zum eigenen Hausarzt herzustellen. Hierfür sind aktuell drei Robotersysteme der Medisana GmbH aus Neuss in der Uniklinik sowie in Pflegeeinrichtungen der Region aktiv und ermöglichen den Wissenschaftlern und Entwicklern Erkenntnisse wie zum Beispiel die Akzeptanz gerade bei den älteren Anwendern. Über eine telemedizinische Software des Uniklinik-Spin-Offs Docs in Clouds TeleCare GmbH sollen in den kommenden Projektmonaten nicht nur Ärzte, sondern auch Therapeuten über den Roboter verfügbar sein. Dadurch können nicht nur in Pandemie-Zeiten Kontakte vermieden, sondern zusätzliche therapeutische Ressourcen überregional verfügbar gemacht werden.
Hat Ihrer Meinung nach die Bereitschaft, telemedizinische und/oder robotische Versorgungskonzepte im Gesundheitswesen zu nutzen, spürbar zugenommen, oder ist man hier eher noch zurückhaltend? Welche Rolle spielt die Corona-Pandemie dabei?
Prof. Czaplik: Digitale Produkte erhalten zunehmend Einzug in unsere Gesellschaft. Grund hierfür ist nicht nur, dass immer mehr „Digital Natives“, also Menschen die mit der Digitalisierung aufgewachsen sind, in Verantwortungspositionen hinein wachsen, sondern auch an einem gestiegenen Interesse durch alle Alters- und Gesellschaftsschichten. Immer häufiger können wir hochbetagte Menschen dabei beobachten, wie sie mit ihren Urenkeln über Facetime kommunizieren oder sich über WhatsApp-Nachrichten freuen. Die fast selbstverständliche Nutzung digitaler Produkte im Alltag hat natürlich auch Implikationen auf die Akzeptanz telemedizinischer und robotischer Angebote. Die Corona-Pandemie hat sicher zusätzlich als Katalysator gewirkt, weil mit der Kontaktbeschränkung plötzlich ein weiteres gutes Argument zum Einsatz von Telemedizin und Robotern hinzugekommen ist, an das man vorher gar nicht gedacht hat.
Welcher Aspekt Ihrer Arbeit liegt Ihnen besonders am Herzen?
Prof. Czaplik: Ganz unabhängig davon, wie „intelligent“, „digital“ und ausgeklügelt Technik ist und noch werden wird, sollte sie immer als Hilfsmittel verstanden werden. Gerade im sozialen, zwischenmenschlichen Bereich ist die menschliche Interaktion durch nichts zu ersetzen. Technische Hilfsmittel wie Entscheidungsunterstützungssysteme (regelbasiert und mit Hilfe von Deep Learning / KI), Telemedizin und innovative Sensorik sollen Arzt und Pflegekraft entlasten, so dass sich diese fokussierter und zielgerichteter um ihre Patienten kümmern können. Sie sollen schlussendlich mehr Zeit für die Patienten haben, die gerade persönliche Betreuung und Zuspruch benötigen.
„Hilfsmittel“ bedeutet außerdem, dass die Technik für den Menschen entwickelt und auf die bestehenden Prozesse angepasst werden muss – so gut und soweit das möglich ist. Dazu gehören vor allem Schnittstellen. „Interoperabilität“ ist die Voraussetzung für innovative, zukunftsfähige Systeme. Leider ist dies selbst im Jahr 2021 nicht für alle Hersteller und Unternehmen selbstverständlich.
Das klingt alles sehr spannend. Vielleicht überlegt aktuell jemand, beruflich in diese Richtung zu gehen. Besteht die Möglichkeit, mal bei Ihnen reinzuschnuppern?
Prof. Czaplik: Gute Projekte brauchen gute Leute. Auszeichnend ist die Vielseitigkeit unseres Teams. Für frischen Wind und neue Ideen sind wir stetig auf der Suche nach studentischen Hilfskräften jeglicher Fachbereiche – nicht nur aus der Medizin – wissenschaftlichen Hilfskräften, Naturwissenschaftlern, Ingenieuren sowie Ärzten, die sich wissenschaftlich engagieren wollen. Neben Möglichkeiten zur Mitarbeit bieten wir auch allen Interessierten Perspektiven für ihre Forschungskarriere. Wir freuen uns daher über jede Initiativbewerbung!
Nähere Informationen sowie eine Übersicht zu aktuellen und bereits abgeschlossenen Forschungsprojekten finden Sie auf der Webseite des Acute Care Innovation.Hub:
www.ukaachen.de/ACIH