Im Oktober 2010 wechselte Univ.-Prof. Dr. med. Markus Tingart an die Uniklinik RWTH Aachen und übernahm die Professur und die Leitung der Klinik für Orthopädie. Zuvor arbeitete er an diversen namhaften universitären Einrichtungen, unter anderem im anglo-amerikanischen Raum mit Gastprofessuren an verschiedenen Universitäten. Zu seinen wichtigsten Stationen zählen Köln, Boston und Regensburg. Sein gut 30-köpfiges Team aus Ärzten und Therapeuten untersucht grundlagenorientierte, anwendungsbezogene und klinische Fragestellungen mit dem Ziel, die Behandlung von Erkrankungen und Fehlbildungen des Stütz- und Bewegungsapparats zu verbessern. Es ist in der gesamten Region die einzige orthopädische Forschungsstätte dieser Art.
Herr Prof. Tingart, Erkrankungen des Bewegungsapparats sind weit verbreitet. Mittlerweile sind auch viele Therapien bekannt, die Forschungsaktivitäten in Ihrem Fach jedoch weniger. Woran arbeiten Sie und Ihr Team?
Prof. Tingart: Stimmt, die Orthopädie wurde erst in den 1960er Jahren zum heutigen regulären Universitätsfach, sie ist also noch recht jung. Gleichwohl hat die orthopädische Forschung in den letzten Jahren enorme Fortschritte erzielt: Mit ihrer Hilfe können wir heutzutage auch mit großen Verschleißerkrankungen schmerzfrei alt werden und mobil bleiben – das war nicht immer eine Selbstverständlichkeit. Die klinischen und experimentellen Forschungsschwerpunkte an der Klinik für Orthopädie der Uniklinik RWTH Aachen befassen sich im Kern mit der Regeneration und Rekonstruktion von muskuloskelettalen Geweben.
Welche Rolle spielt die Grundlagenforschung?
Prof. Tingart: Eine zentrale. Hier untersuchen wir entscheidende Wirkungszusammenhänge. Wir unterscheiden Grundlagenforschung und klinische, also anwendungsbezogene Forschung, deren Erkenntnisse oftmals unmittelbar dem Patienten zugutekommen. Unser orthopädisches Labor für Grundlagenforschung verfolgt dabei fünf Schwerpunkte: Erstens das künstliche Herstellen von Knorpel- und Knochenteilen, wir nennen das „funktionales Tissue Engineering“, zweitens die Mechanobiologie als eine Weiterentwicklung der klassischen Biomechanik, die sich mit mechanischer Kompetenz der biologischen Strukturen beschäftigt. Zudem erforschen wir drittens die Entwicklung und den Einsatz von Bioreaktoren zur künstlichen Herstellung von Zellen, viertens den Einsatz unterschiedlicher Biomaterialen in der muskuloskelettalen Regeneration sowie schließlich Fragen der Mechanotransduktion. Hierunter versteht man die Übertragung und Umwandlung eines mechanischen Reizes auf Gewebe in eine biologische Antwort und Reaktion. Für viele Prozesse im menschlichen Gewebe, besonders in der Regulation, Regeneration und auch in der Adaption, ist das ein unerlässlicher Faktor.
Wie kann man sich im Vergleich dazu die klinische anwendungsorientierte Forschung vorstellen?
Prof. Tingart: Hier arbeiten wir in sogenannten Arbeitsgruppen, denen jeweils ein Experte der Klinik vorsteht. Die AG „Nicht-invasive Wirbelsäulen- und Bewegungsanalyse“ beschäftigt sich etwa mit Messverfahren zur Wirbelsäulen- und Ganganalyse, die dafür nicht in den Körper eingeführt werden müssen. Hierfür steht uns in der Klinik für Orthopädie ein modernes Ganglabor mit dynamischer Wirbelsäulenvermessung sowie ein innovatives Inertialsensor-System zur Verfügung. Oftmals kooperieren wir auch mit anderen Instituten. Die AG „Klinisch-experimentelle orthopädische Biomechanik“ setzt sich aus Experten unserer Klinik und der Medizintechnik am Helmholtz-Institut zusammen. Hier stehen interdisziplinäre Fragen der Orthopädie und Medizintechnik im Fokus. Der von Dr. Björn Rath geleitete Bereich der „Klinisch-experimentellen Orthopädie“ kooperiert schließlich eng mit dem von Dr.-Ing. Jörg Eschweiler verantworteten Bereich „Biomechanik, Modellbildung und Simulation“. Gemeinsam wollen wir moderne Simulations- und Modellierungsverfahren entwickeln, um die Entstehung und das Fortschreiten degenerativer Gelenkerkrankungen zu erforschen. Die Spanne der Entwicklungen reicht dann von individualisierten Implantaten über die Optimierung von Knorpelersatzverfahren bis hin zu Schulter- und Fußsimulatoren sowie zur Hüftmodellierung.