Implikationen für Ursache und Verlauf der Anorexia nervosa
Sir William Gull in England und Charles Lasègue in Frankreich beschrieben in den Jahren 1873/1874 das Krankheitsbild der Anorexia nervosa, kurz AN, oder Pubertäts-magersucht, die damals als „hysteric apepsia“ beziehungsweise „l´anorexie hysterique“ bezeichnet wurde. Mit hoher Wahrscheinlichkeit waren aber schon in früheren Jahrhunderten Mädchen und Frauen an dieser Störung erkrankt, zum Beispiel Katharina von Siena, eine Fastenheilige des Mittelalters, die in der Kirchengeschichte große Bedeutung erlangte. Diese Erkenntnis aus der Medizingeschichte war wichtig, um die Auffassung, die AN sei eine „Kultur- oder Modekrankheit“ des 20. und 21. Jahrhunderts infrage zu stellen. Auch die Fokussierung auf familiäre Faktoren trug nicht zur Klärung der Ursache bei. Allerdings gibt es immer mehr Hinweise auf biologische Faktoren, die bedeutsamen Einfluss auf die Genese und auf den Verlauf der Erkrankung nehmen. Hierzu gehört auch die Darm-Gehirn-Interaktion, englisch gut-brain-interaction, die sich zu einem der Forschungsschwerpunkte der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters entwickelt hat.
Was ist Anorexia nervosa?
Die AN ist eine Erkrankung des Jugend- und frühen Erwachsenenalters, die vornehmlich beim weiblichen Geschlecht auftritt. Sie ist gekennzeichnet durch:
- eine zu geringe Nahrungsaufnahme (Fasten), die zu einem ausgeprägten Gewichtsverlust
- beziehungsweise mangelnder Gewichtszunahme führt;
- eine tiefgreifende Angst, an Gewicht zuzunehmen (Gewichtsphobie);
- eine Überbewertung von Figur und Gewicht mit hohem Einfluss auf das Selbstwertgefühl (American Psychiatric Association 2013).
Es ist für die meisten Menschen schwer vorstellbar, den kaum erträglichen Zustand des Hungerns anzustreben und – so lange es geht – aufrechtzuerhalten. Menschen mit AN erleben diesen Zustand jedoch als Verstärkung, Belohnung und angstlösend, teilweise sogar als euphorisierend. Mediziner und Psychologen der Uniklinik RWTH Aachen versuchen, hierfür Erklärungen zu finden. Die AN ist die dritthäufigste chronische Erkrankung bei weiblichen Jugendlichen. Sie betrifft jedes 100ste bis 200ste der 15 bis 19-jährigen Mädchen, aber auch jüngere Kinder, Männer und Frauen. In vielen europäischen Ländern – auch in Deutschland – sind die AN-bedingten stationären Behandlungen deutlich angestiegen und verursachen hohe Kosten für das Gesundheitssystem.
Die Bedeutung genetischer Faktoren für die Entstehung der Störung ist mittlerweile unbestritten. Weibliche Verwandte von Betroffenen haben ein etwa zehnfach erhöhtes Risiko, ebenfalls an AN zu erkranken. Durch große internationale Konsortien, an denen die Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters beteiligt ist, konnten mittels einer genomweiten Assoziationsstudie bei fast 17.000 Patientinnen und Patienten mit AN und mehr als 55.000 Kontrollpersonen acht Genloci auf unterschiedlichen Chromosomen identifiziert werden. Ebenso wichtig sind Untersuchungen genetischer Korrelationen zu anderen psychischen Erkrankungen sowie medizinischen und psychologischen Parametern. Bei der AN wurden signifikante genetische Korrelationen zu Zwangs- und Angsterkrankungen sowie zu schweren Depressionen gefunden. An diesen Erkrankungen leiden Menschen mit AN überzufällig zusätzlich. Weitere signifikante Korrelationen fanden sich zu Stoffwechselparametern, die Einfluss auf den Blutzucker und den Fettstoffwechsel nehmen und somit wichtig für das Gewicht, aber auch die Darmflora sind, sowie zu anthropometrischen Größen wie dem Body Mass Index (BMI) und der Körperfettmasse. Aus diesem Grund betrachtet man die AN nicht mehr ausschließlich als psychische, sondern auch als metabolische Störung. Vieles spricht dafür, dass die AN wie die Adipositas möglicherweise eine „Gewichtsregulationsstörung“ ist, die die häufigen Rückfälle der Menschen mit AN in die Untergewichtigkeit erklärt – entsprechend den übergewichtigen Menschen, die nach Gewichtsreduktionsprogrammen wieder auf ihr „altes“ Gewicht zunehmen. Wie bei vielen anderen psychischen Störungen auch bestimmen nicht allein Gene die Entwicklung der Erkrankung. Gesellschaftlicher Druck in Richtung Schlanksein wie durch Medien, die Einflüsse sozialer Gruppen sowie die häufig von Jugendlichen vorgenommenen gegenseitigen Vergleiche in Bezug auf Figur und Gewicht können zu der Entwicklung einer Essstörung beitragen. Dies erklärt aber nicht, warum im Vergleich zur altersentsprechenden Normalbevölke-rung, die ähnlichen „Noxen“ ausgesetzt ist, nur relativ wenige erkranken. Möglicherweise haben die Umweltfaktoren Auslösefunktion für eine Diät oder Gewichtsabnahme, die bei (genetisch?) vulnerablen Individuen die „Kaskade“ für die Entwicklung einer AN in Gang setzen.
Die Bedeutung der menschlichen Darmflora
Von ungefähr 1.000 möglichen Darmspezies hat jeder Mensch rund 500, die man auch als „Fingerabdruck“ des Darms bezeichnen könnte. Diese Darmbakterienkolonie wird auch als Darmmikrobiom, kurz MI für Mikro- biom, bezeichnet. Das MI hilft seinem „Wirt“, dem menschlichen Organismus, Nahrung aufzuspalten und zu verdauen. Eine Veränderung der Nahrungsbestandteile beispielswei-se durch eine Diät kann das MI sehr schnell verändern. David et al. beobachteten, dass die Umstellung von fleischhaltiger auf vegeta-rische Kost innerhalb von zwei Tagen zu einer bedeutsamen Veränderung des Mikrobioms führte, die mit erneuter Kostumstellung rückläufig war. Erste Studien bei Patientinnen mit florider AN, das heißt ausgeprägter Symptomatik, weisen ebenfalls auf signifikante Verän-derung des MIs hin: Die Mehrzahl findet eine Reduktion der α-Diversität („Vielfalt“), die sich auch nach Gewichtszunahme nicht normalisiert. Eine Analyse der Bakterienstämme ergab, dass solche, die die Darmschleimhaut beschädigten und entzündungsfördernd wirkten, bei AN vermehrt auftraten, siehe nachfolgendes Bild.
Bei Nagern konnte faszinierenderweise beobachtet werden, dass die Übertragung von Stuhlproben von fettleibigen auf keimfreie Mäuse bei letzteren zu Fettleibigkeit führte. Die Übertragung von Bakterienarten von Kindern mit Kwashiorkor (Protein-Energie-Mangelernährung in Entwicklungsländern) auf keimfreie Mäuse hatte einen signifikanten Gewichtsverlust zur Folge. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben einen Zusammenhang zwischen der Zusammensetzung des MIs und dem BMI gefunden. So ist bekannt, dass das MI von übergewichtigen Nagern und Menschen den Energiegehalt der Nahrung besser freisetzen kann als das von Normalgewichtigen und damit eine weitere Gewichtszunahme des Wirtes unterstützt.
Jüngste Studien haben wichtige Zusammenhänge zwischen dem MI und depressiver Verstimmung und Angstzuständen aufgezeigt. Keimfreie Mäuse sind weniger ängstlich als solche mit einem „typischen MI“; sie entwickeln normale Angstreaktionen, wenn eine Besiedlung des Darms stattgefunden hat. Eine große Krankenakten-Studie in England ergab, dass Patientinnen und Patienten, die häufig Antibiotika nehmen, welche das MI verändern oder reduzieren, mehr unter depressiven Verstimmungen und Ängsten litten als Kontrollpersonen.
Das Aachener Projekt
Durch eine Förderung der European Research Association (ERA-NET) ist es an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters nun möglich, die Veränderung des MIs bei Patientinnen mit AN im akuten Krankheitsstadium, im Verlauf, nach Gewichtsnormalisierung und nach einjähriger Beobachtung zu untersuchen. Das Forschungsprojekt wird gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Deutschland, den Niederlanden, Österreich und Frankreich realisiert. Für die Patientinnen ist dies nicht mit einer größeren Belastung verbunden. Sie geben Stuhl- und Blutproben ab, nehmen an Verhaltenstests und (strahlungsfreien) Magnetresonanzuntersuchungen teil.
In Aachen erhalten die Patientinnen ein unschädliches Nahrungsergänzungsmittel aus Omega-3-Fettsäuren. Dieses soll das Wachstum „gesunder“ Bakterien im Darm fördern. In einer Voruntersuchung zeigten Patientinnen mit AN nach der Einnahme von Omega-3-Fettsäuren eine Tendenz zu einer schnelleren Gewichtsrekonstruktion und einer besseren Energienutzung. Außerdem wurde das aktivitätsbasierte Tier- Anorexie-Modell (ABA) weiterentwickelt. Dieses kombiniert Nahrungsbeschränkung und Laufradverfügbarkeit. Es hat sich gezeigt, dass Gewichtsverlust, Hyperaktivität, Sistieren der Menstruation, hormonelle Störungen, Lerndefizite und Hirnvolumenverlust ähnlich der menschlichen AN angemessen modelliert werden können. Mithilfe des Tiermodells lässt sich feststellen, welchen Einfluss das MI auf die Hirnmorphologie, funktionelle Hirnverän- derungen einschließlich der Neurotransmit-tersysteme und auf neuropsychologische Funktionen hat.
Die AN ist eine der „exemplarischsten“ Störungen, um die Wechselwirkung zwischen Darm und Gehirn zu untersuchen, denn es gibt keine andere psychische Erkrankung, bei der die Ernährung und ihre Veränderung eine so entscheidende Rolle spielen. Neben dem Nutzen dieser Forschung für Patientinnen mit AN können die Ergebnisse möglicherweise auch auf andere Krankheiten übertragen werden, bei denen Ernährung und das MI eine wichtige Rolle spielen.
Quellennachweise und Autorenlisten finden Sie im Forschungsmagazin RWTH THEMEN.