Die Zentrale Notaufnahme bietet eine akut- und notfallmedizinische Versorgung von Krankheitsbildern aller Fachrichtungen rund um die Uhr und dient als zentrale Anlaufstelle für alle medizinischen Notfälle unserer Patientinnen und Patienten. Was viele nicht wissen: Das Experten-Team der Notaufnahme rettet nicht nur, es erforscht auch innovative Konzepte für die Notfallmedizin. Priv.-Doz. Dr. med. Jörg Christian Brokmann, Ärztlicher Leiter der Zentralen Notaufnahme, im Interview mit aachener FORSCHUNG über die Forschungsarbeit und Zukunft seiner Abteilung.
Herr Dr. Brokmann, Sie sind seit fast zehn Jahren Leiter der Notaufnahme der Uniklinik RWTH Aachen. Was ist das Besondere an der Notfallmedizin in einem Univer-sitätsklinikum?
Dr. Brokmann: Da gibt es drei Spezifika: Erstens sind wir eine große Abteilung. Unsere Notaufnahme ist mit mehr als 56.000 Patienten pro Jahr eine stark frequentierte Notaufnahme. Zweitens ist unsere Hauptaufgabe die professionelle Notfallversorgung von Patientinnen und Patienten mit Krankheiten oder Verletzungen jeglicher Art. Das betrifft das komplette medizinische Spektrum – vom Bruch über den Infarkt bis hin zur Verbrennung oder Augenverletzung. Die Interdisziplinarität spielt also eine zentrale Rolle und ist mitentscheidend für den Therapieerfolg. Daher sind alle klinischen Fachabteilungen der Uniklinik RWTH Aachen an der Notfallversorgung beteiligt und werden durch die Oberärzte der Zentralen Notaufnahme koordiniert. Wir haben immer internistische, chirurgische sowie neurologisch tätige Ärzte vor Ort. Jederzeit können weitere Fachdisziplinen hinzugezogen werden. Drittens sind wir auch eine Forschungseinrichtung und widmen uns der Entwicklung innovativer Konzepte für die Rettungsmedizin. Die Kombination dieser drei Aspekte macht unsere Abteilung in Vergleich zu anderen Häusern besonders, wenngleich ich betonen möchte, dass wir seit Jahren ein enges und kollegiales Verhältnis zu anderen Häusern und zum Rettungsdienst pflegen – anders kann Notfallmedizin nicht funktionieren.
Welche Forschungsschwerpunkte verfolgen Sie in Ihrer Abteilung?
Dr. Brokmann: Das sind ganz verschiedene Themen: Uns interessiert die prähospitale Versorgung, also auch der luftgestützte und bodengebundene Notarztdienst. Wir fokussieren aber auch Fragen der Telenotfallmedizin, der Reanimation sowie Themen der intersektoralen Versorgungsforschung. Gerade für eine Zentrale Notaufnahme ergibt sich eine Vielzahl weiterer attraktiver transsektoreller Forschungsansätze, die bisher wenig untersucht sind und sich durch das Zusammenspiel zwischen notfallmedizinisch tätigen Fachbereichen und Versorgungsstrukturen ergeben. In den letzten Jahren nimmt auch das Thema Digitalisierung, Big Data und Telemedizin einen stetig breiteren Raum ein.
Was kann Digitalisierung aus Sicht des Patienten in der Notfallmedizin bringen?
Dr. Brokmann: Das tut sie hier in Aachen schon seit Jahren, in mehrfacher Hinsicht. Durch Beschluss des Rates der Stadt Aachen im Jahr 2014 wurde etwa der Telenotarztdienst in den Regelrettungsdienst der Stadt Aachen als europaweit erstes umfassendes telemedizinisches Rettungsassistenzsystem in der prähospitalen Versorgung implementiert. Zudem haben wir uns aktuell auf die geriatrische Versorgung in Pflegeheimen oder dem häuslichen Umfeld konzentriert. Im Behandlungsalltag erleben wir oft, dass ältere Menschen in die Notaufnahme gebracht werden, auch wenn sie besser vor Ort versorgt werden könnten. Hier setzen wir mit einem eigenen Projekt an: Es heißt „Optimal@NRW“. Wir wollen damit die Versorgung dieser Patienten bedarfsgerecht gestalten und vor allem Delirs und Verwirrtheitszustände vermeiden: Dazu gehört unbedingt die Vermeidung inadäquater Krankenhauseinweisungen und eine frühzeitigere Erkennung einer gesundheitlichen Verschlechterung mithilfe eines Frühwarnsystems. Im Durchschnitt verbringen Pflegebedürftige 21,7 Tage pro Jahr im Krankenhaus, manchmal ohne dass es medizinisch indiziert gewesen wäre. Das wollen wir verbessern. Das machen wir gemeinsam mit einem Team aus Konsortialpartnern. Letztlich gilt: Für Fragen der Versorgungsforschung gilt dasselbe wie für die Rettungsmedizin insgesamt: Wir sind Teamplayer, keine Einzelkämpfer!
Was erwarten Sie für die Zukunft?
Dr. Brokmann: Hier stehen sicherlich zwei Fragen im Fokus. Erstens: Wie können wir sicherstellen, dass nur die Patientinnen und Patienten die Notaufnahmen aufsuchen, die wirklich eine Akutmedizin benötigen? Leider ist das momentan nicht der Fall. Die niedrigschwellige Zugangsmöglichkeit zu den durch permanent verfügbaren Notaufnahmen für Menschen, die ebenso gut durch den Hausarzt behandelt werden können, ist ein gesellschaftliches Problem und bedarf einer politischen Klärung. Wenn wir uns nur auf die Menschen konzentrieren könnten, die wirklich notfallmedizinisch versorgt werden müssen, wäre das letztlich für alle Bürgerinnen und Bürger ein Gewinn. Das ist eine politische Frage, aber zugleich auch ein Themengebiet für die Versorgungsforschung, die zeigen kann, das ein Systemwechsel hier auch für den Patienten erhebliche Vorteile bringt. Zweitens sind Projekte wie Optimal@NRW sicherlich nur ein erster Schritt. Die Notfallversorgung in Deutschland steht in vielen Bereichen vor einem drastischen Wandel. Auch in der Notaufnahme wachsen die Datenmengen. Gerade moderne Behandlungsmethoden sind in der Regel mit zusätzlicher Produktion von Daten verbunden: neue Entwicklungen in der Medizintechnik, bildgebende Verfahren, die elektronische Gesundheitsakte, Informationssysteme am Krankenbett oder das Monitoring von Vitalparametern in Echtzeit – am Ende steht immer ein massiver Zuwachs an Daten. Wenn es gelingt, diese bereits vorhandenen Daten aufzubereiten und zu analysieren, lassen sich sowohl Diagnosen und Behandlungen als auch die internen Abläufe verbessern. So können Ärzte beispielsweise bei unklaren Krankheitsbildern mittels künstlicher Intelligenz aus ähnlichen Fällen Muster ableiten, sie können die Wirkungen von bestimmten Medikationen vergleichen oder typische Komplikationen genauer vorhersehen. Die Verwaltung wiederum kann zum Beispiel aktuelle Wartezeiten von Patienten oder von speziellen Untersuchungen überwachen, vorhersagen und steuern, indem etwa diagnostische Kapazitäten kurzfristig angepasst werden. Das Mehr an Informationen, das Big Data beschert, kann also nicht nur Diagnosen und Therapien verbessern, sondern auch die Kosten im Gesundheitswesen reduzieren.