In einigen Arztpraxen in Deutschland ist das Faxgerät nach wie vor der Dreh- und Angelpunkt für die Kommunikation. Doch die fortschreitende Digitalisierung wird nicht nur den Praxisalltag verändern, sondern auch die Behandlungsmöglichkeiten für Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen deutlich verbessern. Univ.-Prof. Dr. med. Martin Mücke, Leiter des Instituts für Digitale Allgemeinmedizin und Vorstandssprecher des Zentrums für Seltene Erkrankungen an der Uniklinik RWTH Aachen, gibt einen Einblick in die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung der Medizin.
Wer heutzutage bei seinem Hausarzt einen Termin vereinbaren möchte oder beispielsweise eine Kopie eines Briefes benötigt, der greift zur Kontaktaufnahme am besten immer noch zum Telefon. Ein Großteil der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte bietet auch kaum andere Möglichkeiten an. Dafür ist es geradezu sinnbildlich, dass das Faxgerät in vielen Praxen noch allgegenwärtig ist: Insbesondere im Kontakt mit anderen Ärzten, Krankenhäusern oder Seniorenheimen ist es für den Informationsaustausch weiterhin das etablierte Mittel der Wahl. „Man kann vermuten, dass es in vielen Praxen deshalb so gehandhabt wird, weil es halt schon immer so war und es auch weiterhin funktioniert. Modernere digitale Lösungen bieten für die Ärzte und die Patienten allerdings deutliche Verbesserungen und Ressourcenersparnisse, weswegen der Anreiz, die eigene digitale Infrastruktur der Arztpraxis zu modernisieren, zukünftig größer werden wird“, so Univ.-Prof. Dr. med. Martin Mücke. Die Digitalisierung wird den Patientinnen und Patienten in Zukunft an vielen Stellen begegnen: Egal, ob die Terminvereinbarung, die Organisation der Abläufe vor Ort, die papierlose Verwaltung, ein Symptome-Check oder der digitale Austausch fernab aller Faxgeräte. Neben der zunehmenden Bedeutung von Video-Sprechstunden und Online-Bewertungsportalen bei der Arztsuche, so ist sich Prof. Mücke sicher, werden diese Themen den Praxisalltag bestimmen: „Zugegebenermaßen ist der Weg dorthin noch ein sehr langer und die Skepsis gegenüber dieser Entwicklung ist sicherlich vorhanden. Aber der potenzielle Nutzen für alle Beteiligten ist enorm, denn wir können Methoden zur Diagnosestellung erleichtern und weiterentwickeln. Beispielsweise ermöglicht ein digitales Health-Monitoring im heimischen Umfeld der Patienten, dass sie ihre Vital-Daten neben einer Beschreibung ihrer Beschwerden an ihren Hausarzt übermitteln können und dieser aus der Distanz eine Einschätzung des Gesundheitszustandes treffen kann. Mithilfe der ihm vorliegenden Informationen kann er entscheiden, ob der Patient in die Praxis kommen sollte, eine Notaufnahme aufsuchen muss oder ob zum Beispiel erst einmal ein (Video)-Telefonat ausreichend ist.“
Hoffnung für Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen
Prof. Mücke macht sich insbesondere Hoffnungen für Patientinnen und Patienten ohne eine Diagnose, die unter einer unerkannten seltenen Erkrankung leiden. Schätzungen gehen davon aus, dass rund vier Millionen Menschen in Deutschland und weltweit rund 350 Millionen Menschen davon betroffen sind. Der Leidensweg ist für viele nämlich sehr lang und schwierig: Im Schnitt vergehen fünf Jahre oder deutlich länger bis die richtige Diagnose gestellt wird, denn viele der Betroffenen erhalten zwischenzeitlich eine oder mehrere Fehldiagnosen, weswegen Therapieversuche oft erfolglos bleiben. Etwa 75 Prozent der seltenen Erkrankungen betreffen Kinder. Typischerweise werden bis zu acht verschiedene Ärzte aufgesucht, um Hilfe zu erhalten. „Dass diese Schwierigkeiten haben, bei ihren Patienten die richtige Diagnose zu stellen, ist nicht überraschend und hat einen einfachen Grund: Mittlerweile kennen wir in der Medizin mehr als 8.000 seltene Erkrankungen. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen begegnen einem Patienten mit einer solchen Erkrankung statistisch gesehen nur ein einziges Mal in ihrem Berufsleben. Die dafür benötigten Kenntnisse kann kein einzelner Arzt abdecken. Eine stärkere Vernetzung und ein intensiverer Einsatz von künstlicher Intelligenz können uns aber zukünftig dabei helfen, an diesem Punkt anzusetzen und den schwierigen Weg der Diagnosestellung zu verbessern.“
Ärzte und Forschende machen sich hierfür Entwicklungssprünge des sogenannten Deep und Machine Learning zunutze. Darunter versteht man die Verwendung künstlicher neuronaler Netze für die Analyse von sehr großen Datenmengen. Ihre Funktionsweise ist abgeleitet von biologischen neuronalen Netzen, wie sie im menschlichen Gehirn vorkommen. Die analytische Vorgehensweise ähnelt dabei der des Menschen: Etwas wird wahrgenommen, durchdacht und abschließend wird eine Schlussfolgerung gezogen. Im Gegensatz zum menschlichen Gehirn können künstliche neuronale Netze allerdings viel größere Datenmengen in einer sehr kurzen Zeitspanne untersuchen. Sie bilden daher die Grundlage für die jüngeren Fortschritte der künstlichen Intelligenz (KI). Eine weitere Besonderheit dieser Deep Learning-Ansätze ist, dass sie in der Lage sind, von sich aus zu lernen, sodass sich der Algorithmus automatisch langfristig verbessert. Mit dieser Technik können Mediziner und Forscher heutzutage leichter Trends und Muster in sehr großen Datenmengen identifizieren. „Eine händische Auswertung von Fragebögen, bei denen wir Krankheitszeichen von Patienten abfragen, ist damit eine Arbeitsweise von gestern. Mittels dieser Technik können wir automatisiert und sehr schnell Muster erkennen, die typisch für eine einzelne seltene Erkrankung oder für eine ganze Gruppe von Krankheiten sind. Wir gleichen die Daten zwischen tausenden von verschiedenen Patienten ab und können so diejenigen miteinander verbinden, die ein gleiches oder sehr ähnliches Krankheitsbild und damit möglicherweise auch die gleiche Erkrankung haben. Im besten Fall können wir so deutlich früher die richtige Diagnose stellen.“
Diagnose von Erbkrankheiten per Gesichtserkennung
Die neuen Möglichkeiten machen sich auch technische Anwendungen wie die App „Face2Gene“ zunutze. Sie soll Spezialisten dabei helfen, andere Patientinnen und Patienten mit der gleichen Erkrankung zu finden. Gegründet wurde das dahinterstehende Unternehmen von dem Ingenieur Moti Shniberg, der schon sehr früh an der Entwicklung von Gesichtserkennungsalgorithmen arbeitete und sein Start-up später an Facebook verkaufte. Sein Know-how wollte er eines Tages aber für sinnvolle Tätigkeiten einsetzen: Auf die Idee für Face2Gene kam er, nachdem ihm der Leiter eines Genetik-Zentrums von der Schwierigkeit der Diagnose seltener genetischer Störungen bei Kindern berichtete. Man erklärte ihm, dass die Spezialisten die Form und das Aussehen des Gesichtes von Kindern als Anhaltspunkt nutzen würden, da Erkrankungen – wie beispielsweise das Down-Syndrom – dem Gesicht ein unverwechselbares Aussehen verleihen würden. Also entwickelte Shnibergs Unternehmen für Face2Gene einen auf Gesichtserkennung spezialisierten Algorithmus, der Anzeichen und Symptome in dem Gesicht eines Kindes erfasst, die er einer bekannten Erkrankung zuordnet. Mittlerweile wird die Anwendung von Genetikern und Experten seltener Erkrankungen weltweit eingesetzt und ist in der Lage, mehrere hundert Erkrankungen zu erfassen. Doch die Technologie steht auch vor Problemen, die sich nicht ohne Weiteres überwinden lassen: Die Mehrheit der genetischen Erkrankungen kann die App noch nicht erkennen. Der Grund dafür ist ihr seltenes Vorkommen, denn die künstliche Intelligenz benötigt mindestens sieben Fotos von Patientinnen und Patienten, die an derselben Krankheit leiden. Bei vielen seltenen Erkrankungen liegen die Daten dafür aber noch nicht in ausreichender Menge vor.
Schmerzprofile für die Diagnostik
Ein weiteres Beispiel für den Einsatz eines KI-basierten Tools ist die Nutzung von Schmerzprofilen zur Diagnoseunterstützung. Das Verfahren fußt auf einer simplen Grundannahme: „Bei vielen seltenen Erkrankungen sind Schmerzen oft die ersten Symptome, weswegen die Patienten einen Arzt aufsuchen. Hierbei unterscheiden sich die einzelnen Erkrankungen in den betroffenen Körperregionen. Manche haben beispielsweise Schmerzen am Kopf, am Bauch, an ihren Extremitäten oder in den Gelenken. Mit dem Tool Pain2D können Patienten digital ihre eigenen Schmerzregionen auf einem Körpermodell einzeichnen. Diese Schmerzzeichnungen liest das Programm automatisch ein und gleicht die individuelle Zeichnung mit graphisch generierten Schmerzprofilen bestimmter Krankheiten ab. So lässt sich überprüfen, ob man das Schmerzbild des Patienten einer bereits erfassten Krankheit zuordnen kann. Das Ziel ist natürlich, dass man möglichst viele Erkrankungen mithilfe solcher technischen Lösungen identifizieren kann“, erklärt Prof. Mücke.
Die Digitalisierung der Medizin bildet mit ihren Neuerungen, den Chancen, aber auch Herausforderungen also mehr als nur die reine Ablösung des Faxgerätes. KI-basierte Technologien können nicht nur Ärztinnen und Ärzte im Alltag entlasten, sondern auch Patientinnen und Patienten bei der Suche nach der richtigen Diagnose unterstützen, weil die Weiterentwicklung der Methoden die Diagnostik maßgeblich verbessert. Bis der Einsatz Künstlicher Intelligenz allerdings zum Standard in jeder Arztpraxis wird, wird sicherlich noch das ein oder andere Fax verschickt werden.