Die Genomforschung ist speziell für die Humanmedizin, aber auch allgemein für die moderne lebenswissenschaftliche Grundlagenforschung von zentraler Bedeutung. Kenntnis und Verständnis des menschlichen Erbguts liefern wichtige Grundlagen, um Erkrankungen besser zu erforschen und die Behandlung zu verbessern. Die Genomforschung übernimmt somit in der Medizin eine Schlüsselposition an der Schnittstelle zwischen Krankenversorgung, gesundheitlicher Vorsorge und Forschung ein. Im Interview mit aachener FORSCHUNG spricht Univ.-Prof. Dr. med. Ingo Kurth, Leiter des Instituts für Humangenetik und Genommedizin an der Uniklinik RWTH Aachen, über Gegenwart und Zukunft der Gensequenzierung in der Labordiagnostik.
Herr Prof. Kurth, womit genau beschäftigen Sie sich am Institut für Humangenetik?
Prof. Kurth: Wir beschäftigen uns mit dem menschlichen Genom und dessen genetischen Veränderungen. Das Genom jeder Zelle besteht aus circa drei Milliarden Bausteinen und der Mensch hat knapp 100 Billionen Zellen. Eigentlich ist es unglaublich, wie gut unsere Zellen funktionieren, obwohl an jeder Stelle genetische ‚Fehler‘ auftreten können. Wir schauen besonders auf die genetischen Varianten, auch Mutationen genannt, die zu erblichen Erkrankungen führen. Momentan kennt man mehr als 6.000 solcher genetischer Erkrankungen, die zu Muskel- und Herzerkrankungen, oder auch ganz zu komplexen Krankheiten mit einer Beteiligung vieler Organsysteme führen können. Diese 6.000 Erkrankungen machen nur einen Teil aller genetischen Erkrankungen aus, wir rechnen mit einer weitaus höheren Zahl genetischer Erkrankungen.
Das klingt nach einem breiten Aufgabenfeld. Mit welchen Forschungsschwerpunkten befassen Sie sich?
Prof. Kurth: Die Fragestellungen in der Humangenetik sind vielfältig. Krankheitsbezogen liegen unsere Schwerpunkte im Bereich neuromuskulärer Erkrankungen, genetischer Schmerzerkrankungen, syndromaler Krankheitsbilder und sogenannter Imprinting-Störungen, bei denen beispielsweise epigenetische Veränderungen zu einem Kleinwuchs führen. Aber unser Ansatz ist über die Krankheiten hinaus viel breiter. Wir wollen genetische Varianten und ihre Auswirkungen besser verstehen. Das hat den technischen Aspekt, dass wir Genome vollständig sequenzieren – und davon möglichst viele. Wir benötigen große Datenmengen und auch all die genetischen Informationen, die zwischen den Genen liegen. Die 20.000 Gene machen nur ein bis zwei Prozent unseres Genoms aus, der Rest wurde lange Zeit als ‚Schrott‘ betrachtet. Inzwischen weiß man aber, dass hier wichtige Elemente für das Feintuning unseres Körpers liegen. Zu welchem Zeitpunkt wird ein Gen über diese Elemente angeschaltet? In welcher Zelle wird es angeschaltet? Diese Fragen gilt es im Detail zu klären. Jeder Mensch unterscheidet sich vom anderen um circa drei Millionen Bausteine. Da ist also noch eine Menge zu erforschen, um zu verstehen, welche Varianten zu einer Erkrankung führen und wie man sie in der Klinik therapieren kann. Das ist die Aufgabe der Genomik beziehungsweise der Genommedizin.
Wo liegen derzeit die Herausforderungen an das Fach – und wo in der Zukunft?
Prof. Kurth: Das Fach ist aufgrund technischer Durchbrüche im klinischen Alltag angekommen. Immer mehr Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten suchen Antworten auf Fragen wie: Gibt es eine genetische Ursache für die Muskelschwäche? Gibt es ein familiär erhöhtes Risiko für das Auftreten einer Krebserkrankung wie Brustkrebs? Bekomme ich ein weiteres krankes Kind? Die Schwierigkeit besteht darin, dies alles im Blick zu behalten. Andere Disziplinen haben einzelne Organe oder Erkrankungsgruppen im Fokus. Wir können dies nicht für alle Bereiche in der Tiefe beherrschen, aber wir verstehen, warum und welche Varianten einen Krankheitswert haben können. Die Anforderung an das Fach liegt eindeutig in einer guten interdisziplinären Zusammenarbeit mit den jeweiligen Fachabteilungen. Zukünftig müssen wir es schaffen, krankheitsrelevante Veränderungen noch viel besser zu identifizieren. Dies gelingt nur mithilfe cleverer Automation unter Einsatz der Bioinformatik und mit Methoden der künstlichen Intelligenz. Gleichzeitig werden viele genetische Erkrankungen therapierbar. Man muss nur an die Möglichkeiten der CRISPR-Cas-Methode denken, mit deren Hilfe genetische Veränderungen gezielt repariert werden können. Wir werden hier eine ganz neue Form von Genommedizin erleben, die uns neue Felder der modernen Medizin eröffnet.
Sie sprachen von der Notwendigkeit der automatisierten Gen-Sequenzierung. Wo wird die Sequenzierung bereits eingesetzt und warum ist sie für die Medizin so wichtig?
Prof. Kurth: Das Verfahren der Sequenzierung wird nicht nur in der Humangenetik zur Diagnostik erblicher Erkrankungen angewendet. Nimmt man das aktuelle Beispiel der Pandemie, dann hat die Sequenzierung dazu beigetragen, dass man die Ausbreitung neuer SARS-CoV-2-Varianten wie Delta oder Omikron versteht. Das Virus mutiert, es verändert seine genetischen Eigenschaften. Mit der Sequenzierung können wir erkennen, welche Varianten sich wo etablieren, wie virulent und tödlich sie sind. Ein zweites Beispiel: Jeder Tumor, sei es ein Tumor des Blutsystems wie eine Leukämie, ein Hirntumor oder ein Darmkrebs, entsteht aufgrund genetischer Mutationen in Ursprungszellen. Die Sequenzierung ermöglicht nicht nur, Tumoren viel präziser zu klassifizieren und damit eine Aussage zu Herkunft und Prognose zu machen, sondern hilft auch immer mehr dabei, zielgerichtete Therapien anzuwenden. Hier entsteht eine wirklich personalisierte, also im Hinblick auf die genetischen Eigenschaften maßgeschneiderte Medizin. Nicht zu vergessen sind die durch Einsatz der Sequenzierung enormen Fortschritte im Bereich der biomedizinischen Forschung, die es uns ermöglichen, Krankheiten mittels sogenannter Single-Cell-Sequencing-Technologien bis hin zur Einzelzelle aufzuschlüsseln. Inzwischen kann man das sogar mithilfe von Spatial-Transcriptomics-Methoden in einen räumlichen Kontext bringen, sprich, welche Gene sind in der einen Zelle gegenüber der noch gesunden Nachbarzelle hoch- oder runterreguliert? Die Sequenzierung im Hochdurchsatz ist aus Forschung und Krankenversorgung nicht mehr wegzudenken.
In Ihrem Institut nutzen Sie auch die Technologie des Next Generation Sequencing. Was können wir uns darunter vorstellen?
Prof. Kurth: Allein die Sequenzierung eines einzelnen Gens war lange Zeit schwierig, zeit- und kostenintensiv. Entsprechend schlecht waren auch die Erfolgsraten, wenn man nicht schon eine ganz genaue Verdachtsdiagnose hatte. Als Ursache einer Muskelerkrankung kommen beispielsweise mehrere hundert verschiedene Gene in Frage. Mit dem Einsatz völlig neuer Technologien, die unter dem Begriff Next Generation Sequencing (NGS) und in der Weiterentwicklung auch als Third-GenerationSequencing subsummiert werden, kann man DNA, aber auch RNA in hohem Durchsatz parallel auslesen. Das bringt vollkommen neue Perspektiven für die medizinische Diagnostik mit sich: Wir können nicht nur ausgewählte, sondern alle in Frage kommenden 20.000 Gene oder auch das gesamte Genom sequenzieren. Eine sichere Diagnose liegt somit deutlich schneller vor, was oftmals eine große Entlastung für die betroffenen Patienten und deren Familien bedeutet. Das Anwendungspotenzial der Entschlüsselung der genetischen Information ist enorm. Besonders im Bereich seltener Erkrankungen ist die Diagnose- und Aufklärungsrate deutlich gestiegen. Bei Kindern mit multiplen Fehlbildungen wird beispielsweise in rund der Hälfte aller Fälle eine genetische Grundursache gesichert. Die moderne NGS-Technologie ermöglicht eine neue Herangehensweise an viele Erkrankungen. Genetische Merkmale und Ursachen von Krankheiten können wir auf diese Weise früher erkennen und in die Verbesserung der Therapie- oder auch Präventionsmöglichkeiten einfließen lassen. Das Verfahren stellt neben der apparativen Ausstattung gleichzeitig hohe Anforderungen an Rechenleistung, Speicherkapazität und eine bioinformatische Aufarbeitung der entstehenden großen Datenmengen. Die Genomforschung kann man somit in gewisser Weise auch als Datenwissenschaft sehen.
Wo sehen Sie die zukünftigen Anwendungsbereiche?
Prof. Kurth: Die Anwendungsfelder der medizinischen Genetik sind im Wesentlichen identifiziert. Hierzu zählen die seltenen Erkrankungen, Krebserkrankungen, aber auch vermehrt Entzündungserkrankungen sowie die ganze Bandbreite an Erregerdiagnostik. Wir lernen aber immer mehr, dass auch Volkskrankheiten wie Diabetes mellitus, eine koronare Herzkrankheit oder Bluthochdruck von genetischen Faktoren beeinflusst werden. Hier wird sich aber erst noch zeigen müssen, ob genetische Analysen tatsächlich zu einer Änderung in der Therapie oder Prophylaxe führen können, da viele der beeinflussenden genetischen Varianten nur einen geringen Effekt auf die Krankheitsprägung ausüben. Vielmehr sehe ich zukünftige Anwendungen im Sinne einer schnellen Genomik. Während wir momentan mehrere Wochen für ausführliche Analysen benötigen, geht der Trend zu einer Genomanalyse mit entsprechender Auswertung hin zu wenigen Tagen, im Optimalfall noch schneller. Dieser Bereich der sogenannten ‚Rapid Genomes‘ ist beispielsweise bei kritisch kranken Kindern ein wichtiges Entwicklungsfeld, denn besonders hier kann man es sich gar nicht leisten, die Analyse in die ferne Zukunft zu verschieben – ein schnelles Handeln ist gefragt.
Was kann NGS in der Prävention und Früherkennung leisten?
Prof. Kurth: Krankheiten werden zum Teil vorhersagbar. Ich kann zum Beispiel die Frage stellen, wie wahrscheinlich jemand im Laufe seines Lebens an Brustkrebs erkranken wird. Entsprechend kann ich die Risikopersonen mit nachgewiesener Mutation in intensivierte Vorsorgeprogramme einschleusen. Ich kann aber auch zu einem frühen Zeitpunkt schauen, ob ein Kind eine bestimmte Erkrankung in sich trägt. Für die spinale Muskelatrophie (SMA) kennt man inzwischen eine Gentherapie, die wirkt, wenn sie unmittelbar nach der Geburt angewendet wird. Kinder, die sonst in den ersten zwei Lebensjahren verstorben wären, haben auf einmal eine ganz andere Prognose. Der Erfolg einer frühen Diagnosestellung ist so überzeugend, dass man in Deutschland ein flächendeckendes Neugeborenen-
Screening auf die SMA einführt. Weitergedacht führt das irgendwann dazu, dass ein Neugeborenen-Screening die Analyse des gesamten Genoms bedeuten kann. Das ist medizinisch gesehen durchaus sinnvoll. Aber es stellt sich natürlich die Frage, was und wieviel ich ungefragt über meine Gene und Veranlagungen wissen beziehungsweise preisgeben möchte. Ein schwieriges Thema. Uneingeschränkt gilt jedoch, dass eine frühe genetische Diagnosestellung im Falle einer bestehenden Erkrankung einen enormen Benefit darstellt.
Welche Medikamente könnten durch Genomforschung entwickelt werden?
Prof. Kurth: Sobald man Krankheiten in ihrer Ursache versteht, kann man versuchen, sie gezielt zu behandeln. Die Genomforschung klärt die molekulare Ursache von Erkrankungen auf. Wenn ich weiß, dass ein bestimmtes Gen defekt ist, das die Information für ein Enzym trägt, dann kann ich beim Patienten gezielt dieses Enzym zuführen. Das gelingt beispielsweise bei Enzymersatztherapien. Dennoch verbleibt der zugrundeliegende Gendefekt. Durch die Entdeckung von CRISPR-Cas als ein System, mit dem ich praktisch jede Stelle des Genoms gezielt verändern kann, eröffnen sich in der Genomforschung völlig neue Perspektiven. Die Genomsequenzierung erkennt die Mutation, mittels CRISPR-Cas wird die defekte Stelle repariert. Erste Medikamente sind beispielsweise für bestimmte Blut- oder Augenerkrankungen in der klinischen Erprobung. Somit gehen Genomforschung und Therapie Hand in Hand.
Welchen Patientinnen und Patienten hilft Ihre Arbeit?
Prof. Kurth: Wir hoffen, dass wir einen Beitrag leisten, Patientinnen und Patienten und Familien mit genetischen Erkrankungen, die meist zu den seltenen Erkrankungen zählen, Hilfestellungen zu geben. Das muss nicht immer direkt die heilende Therapie sein, das ist in vielen Fällen gar nicht erwartbar. Die Diagnosestellung nach einer teils jahrelangen Odyssee verschafft vielen Betroffenen aber eine unglaubliche Erleichterung. Endlich weiß ich, warum mein Kind das alles hat. Wir hören das trotz teils schwerwiegender Diagnosen so oft. Wir können dann verlässliche Aussagen zu Wiederholungswahrscheinlichkeiten für weitere Kinder machen, Methoden der vorgeburtlichen und Präimplantationsdiagnostik besprechen und die weitere Therapie- und Vorsorgeplanung interdisziplinär optimieren. Ein tolles Team aus technischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, Bioinformatikerinnen und -informatikern sowie Ärztinnen und Ärzten arbeitet daran, vom Patienten zur Diagnose und wieder hin zum Patienten zu gelangen.
Wie weit ist die Genomforschung in Deutschland im internationalen Vergleich?
Prof. Kurth: Die Genomforschung in Deutschland stand lange im Schatten der Nachbarländer. Island, Frankreich und Großbritannien mit seinem ‚100.000 Genomes Project‘ haben längst groß angelegte, geförderte Genomprojekte. Deutschland hat nun endlich seine Skepsis abgelegt und auch in der Bevölkerung erkennt man zunehmend die Chancen der Genomforschung. Mit ‚genomDE‘ startet nun in Deutschland ein Projekt der Genommedizin zur Verbesserung der Prävention, Diagnose und Behandlung von Krankheiten. Als Standort Aachen haben wir uns für die Teilnahme an diesem Modellvorhaben zur Genomsequenzierung qualifiziert und freuen uns auf die hierdurch entstehenden Chancen.