Die Hände des 15-Jährigen zittern, er ist unkonzentriert, seine Sprache verwaschen. Nach einer langen Odyssee von einem Arzt zum anderen entdecken Aachener Neurologen Veränderungen im Gehirn des Jungen – doch es ist vorrangig der Blick, der die Mediziner auf die richtige Fährte bringt.
Marcel P. ist 15, als ihn plötzlich seltsame Beschwerden plagen. Der bis dahin gesunde Jugendliche und einer der Klassenbesten hat Mühe, sich zu konzentrieren, ist ständig müde und andauernd wird ihm schlecht. Gleichzeitig ändert sich sein Wesen. Marcel ist nicht mehr zugänglich, wird schnell aggressiv, hat sich nicht mehr unter Kontrolle. Die Eltern hoffen, seine Wesensveränderung und auch die plötzliche Unkonzentriertheit und Unordentlichkeit seien Auswüchse der Pubertät.
Auch seine Bewegungen kann er nicht mehr durchgehend kontrollieren: Seine Hände zittern. Die Sprache wird undeutlicher, seine Bewegungen langsamer und schwerfälliger. Als das Zittern übermächtig und Marcels Handschrift unleserlich werden, wird den Eltern der Ernst der Lage bewusst: Das kann nicht die Pubertät sein. Sie suchen verzweifelt ärztlichen Rat. Nach einer erfolglosen Odyssee aus Arztbesuchen und Diagnostik wenden sie sich mit ihrem Sohn an das Zentrum für Seltene Erkrankungen Aachen (ZSEA).
Ich sehe was, was du nicht siehst
In Aachen suchen die Ärzte fieberhaft nach einer Diagnose. Sie finden nicht nur heraus, dass seine Arme und Beine zittern. Auch die Muskeln ihres Patienten sind verkrampft. Doch vorrangig ist es sein Blick, seine Augen, die die Mediziner auf die richtige Fährte führen: Auf beiden Seiten umgibt ein grünlich-brauner Ring seine Iris. Und die Verdachtsdiagnose wird nach umfangreichen Untersuchungen zur Gewissheit. Marcel leidet unter einer seltenen Krankheit namens Morbus Wilson, der sogenannten Kupferspeicherkrankheit.
Beim Morbus Wilson handelt es sich um eine seltene angeborene Stoffwechselerkrankung, bei der das Fehlen einer Kupferpumpe zur Speicherung von Kupfer in den Zellen führt. Ein Gendefekt sorgt dafür, dass der Körper das über die Nahrung aufgenommene Spurenelement Kupfer nicht ausscheidet, sondern in der Leber sammelt. Irgendwann ist die Speicherkapazität erschöpft und allmählich wird der gesamte Körper vom überschüssigen Kupfer beschädigt beziehungsweise vergiftet. Das Kupfer lagert sich in Organen wie Gehirn, Leber, Auge, Niere, Herz, Blut und Gelenken ab. Besonders auffällig ist es in den Augen. Dort bildet es einen farbigen Ring um die Hornhaut. Bei vielen Wilson-Patienten sind unter anderem aus Gehirnschädigung resultierende Verhaltensauffälligkeiten zu beobachten. Dazu zählt eine mangelnde Kontrolle von Emotionen, die zu Heulanfällen, Wutausbrüchen, Depressionen und manchmal bizarrem Verhalten führen kann.
Wenn sich der Körper nur unauffällig verändert, ein seltsamer Wandel sich langsam vollzieht, fällt es oft schwer, dies überhaupt zu erkennen. Weltweit leidet nur einer von 30.000 Menschen an Morbus Wilson. Aufgrund der Seltenheit der Krankheit, der Vielfalt möglicher Symptome und ihrer unspezifischen Ausprägung kommt es oft zu verspäteten oder gar fehlerhaften Diagnosen und langen vergeblichen Behandlungsverläufen – ein Schicksal, das auch bei anderen seltenen, genetischen Erkrankungen zu beobachten ist. Unbehandelt führt Morbus Wilson zum Tod. Doch die Erbkrankheit gehört zu den wenigen neurodegenerativen Erkrankungen, bei denen durch eine frühzeitige Diagnose und rechtzeitige Behandlung Schäden verringert oder sogar vermieden werden können.
Anlaufstelle für verzweifelte Patienten – und ratlose Ärzte
Dass der heute 18-jährige Marcel behandelt wird und dadurch symptomfrei wurde, ist der Zusammenarbeit mehrerer Spezialisten zu verdanken. Seit der Gründung des Zentrums für Seltene Erkrankungen an der Uniklinik RWTH Aachen im Jahr 2014, die durch Prof. Schulz initiiert wurde, engagieren sich Fachärzte verschiedener Disziplinen verstärkt gemeinsam, um rätselhaften und komplexen Leidensgeschichten auf die Spur zu kommen und den betroffenen Patienten eine kompetente Behandlung zu ermöglichen.
Inzwischen haben beispielsweise Experten mit „Orphanet“ ein umfangreiches Register mit Erkrankungen erstellt, von denen viele Mediziner und die meisten Patienten noch nie etwas gehört haben. Dr. rer. nat. Christopher Schippers, koordinierender Geschäftsführer des ZSEA, erklärt: „Von einer Seltenen Erkrankung spricht man, wenn sie bei nicht mehr als einem Erkrankten pro 2.000 Personen auftritt. Allein in Deutschland geht man von etwa vier Millionen Betroffenen aus.“ Fast alle Patienten haben bereits einen langen Leidensweg durch zahlreiche Wartezimmer hinter sich. Einige wurden jahrelang von Arzt zu Arzt geschickt und haben etliche Verdachtsdiagnosen erhalten, ohne dass ihnen nachhaltig geholfen werden konnte. Die Frage, ob sie überhaupt krank sind und an was sie leiden, bleibt. „Mit unserem Zentrum möchten wir die Lebensqualität dieser Patienten und auch deren Angehörigen verbessern. Die Uniklinik ist ein Haus der kurzen Wege, hier findet man viele verschiedene Fachdisziplinen unter einem Dach. Wir versuchen, durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit eine diagnostische Klärung herbeizuführen, die auf die optimale Therapie eines jeden Patienten abzielt“, so Dr. Schippers. „Dafür haben wir zehn Spezialzentren, etwa für neurologische Erkrankungen, Leber-, Nieren- und Augenerkrankungen sowie hämatologische Erkrankungen und Gesichts- und Skelettfehlbildungen.“
Kontakt zum Zentrum für Seltene Erkrankungen können Haus- oder Fachärzte wie auch Patienten und Angehörige selbst aufnehmen. Als Patienten-Lotsin kümmert sich Daniela Volk in Zusammenarbeit mit studentischen Hilfskräften um die Anfragen. Benötigt werden möglichst vollständig alle bisher erhobenen Befunde und ärztlichen Berichte, und es braucht einen Arzt, der die Einreichung unterstützt „Nach der Aufnahme in unserem Zentrum sichte ich zunächst die Unterlagen, verschaffe mir einen Überblick über bereits erfolgte Untersuchungen und durchforsche diese auf mögliche bisher noch nicht erkannte Zusammenhänge“, so die ZSEA-Ärztin. Ist die Uniklinik RWTH Aachen nicht zuständig, hilft sie bei der Suche nach externen Spezialisten. Die Experten kooperieren zu diesem Zweck eng mit weiteren Zentren für Seltene Erkrankungen und anderen Einrichtungen, auch über die Landesgrenzen hinaus. Das ZSEA setzt dabei ganz explizit auf die Vernetzung. So ist es im INTERREG-Projekt „Euregio Meuse-Rhine Rare Diseases“ (Seltene Erkrankungen in der Euregio Maas-Rhein) in einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen den Universitätskliniken Aachen, Maastricht und Lüttich, verschiedenen Krankenkassen, Patientenorganisationen und einer Universität aktiv. Auf nordrhein-westfälischer Seite hat es die Gründung eines Netzwerks NRW-ZSE initiiert, dem alle sieben Zentren für Seltene Erkrankungen in NRW angehören und das – wie auch beim EMRaDi-Projekt – Fördermittel vom Land NRW erhält. In beiden Projekten ist die Verbesserung der Lebensqualität von Patienten mit Seltenen Erkrankungen das Hauptziel.
Schlüssel liegt in interdisziplinärer Zusammenarbeit
Die weiterhin ungeklärten Fälle werden im Rahmen einer interdisziplinären Konferenz in einem Team mit Spezialisten aus Fachgebieten wie Neurologie, Onkologie, Radiologie, Gastroenterologie und Psychiatrie aufgearbeitet und besprochen. Alle im Zentrum tätigen Ärzte sind Klinikärzte der Uniklinik RWTH Aachen. Jede Fachrichtung hat ihre eigene Sichtweise auf die Beschwerden. Zusätzlich kann auch mit neuen speziell hierfür ausgerichteten Suchmaschinen ein Zusammenhang zwischen Symptomen ermittelt und aufgedeckt werden. Oft aber lässt sich allein durch diese professionelle multidisziplinäre Zusammenarbeit eine (Verdachts-)Diagnose finden, die anschließend mit weiteren Untersuchungen und Tests gesichert werden kann.
Zentrum für Seltene Neurologische Erkrankungen Das Behandlungs- und Forschungszentrum für Seltene Neurologische Erkrankungen der Uniklinik RWTH Aachen als Spezialgebiet des ZSEA verfügt über mehrere Ambulanzen und Sprechstunden, die auf eine lange Tradition zurückblicken. Im Fokus stehen seltene Bewegungsstörungen, neuromuskuläre Erkrankungen, Erkrankungen des autonomen Nervensystems und spinale vaskuläre Erkrankungen. Im Zentrum werden pro Jahr schätzungsweise 1.500 Patienten mit einer entsprechenden Seltenen Erkrankung behandelt. Das Zentrum ist darüber hinaus sehr forschungsaktiv. Schwerpunkte der Forschung liegen im Bereich der Friedreich Ataxie, einer degenerativen Erkrankung des Zentralen Nervensystems, und neuromuskulärer Erkrankungen. Das Zentrum ist außerdem an zahlreichen Registern beteiligt (ENROLL-HD, EFACTS, EuroSCA, RISCA, MitoRegister, CMT Patientenregister, Register für Motoneuronerkrankungen (MND-Net), Patientenregister für Myotone Dystrophie (MD), DMD und SMA Patientenregister u.a.) und engagiert sich in zahlreichen klinischen Studien. Auch sind die Kliniker und Wissenschaftler an zahlreichen Forschungsprojekten unter anderem des BMBF und der EU, wie etwa MitoNet oder E-FACTS, beteiligt.
Forschung bei Seltenen Erkrankungen ist ein entscheidender Faktor
Bis vor einigen Jahren wurden Seltene Erkrankungen von Medizin und Forschung eher stiefmütterlich behandelt. Zwar sind diese Erkrankungen im Gegensatz zu den weit verbreiteten Volkskrankheiten auch heute noch schlecht erforscht, doch die Aufmerksamkeit ist gewachsen. Auch die Politik hat den Bedarf an Spezialzentren wie dem ZSEA erkannt und steigert die Förderung im Bereich der Seltenen Erkrankungen. So soll den lange vernachlässigten Patienten Schritt für Schritt in allen Bundesländern eine Verbesserung der gesundheitlichen Situation geboten werden. Für Betroffene wie Marcel P. ist das ein lebenswichtiger Schritt in die richtige Richtung.